Quasi als Prolog steht noch vor dem eigentlichen Kapitel 1 dieses Romans ein Kleinkapitel, das den Titel Me and the Devil trägt und aus Identitti stammen soll, einem Blog von Mixed-Race Wonder-Woman. Dieser Blogeintrag enthält in nuce bereits die ganze Thematik, die im Folgenden im Roman ausgeführt werden wird. Ja, schon die ersten paar Sätze breiten diese praktisch schon vollständig aus. Dieser Blogeintrag fängt nämlich so an:
Das letzte Mal, dass ich mit dem Teufel sprach, war er nackt, sichtlich sexuell erregt und eine Frau.So viel zu sozialen Gewissheiten: Wenn man sich nicht einmal darauf verlassen kann, dass der Teufel ein Mann ist, kann man direkt jede Form von Identität ablegen wie ein altes T-Shirt! Was ich ja gerne tun würde, wenn ich denn eine hätte, die ich an- geschweige denn ablegen könnte.
Bereits der Name des Blogs ist sprechend: Es geht im ganzen Blog, in oben zitiertem Blogeintrag und im ganzen Roman primär um die Identitäts-, also Selbstfindung der jungen Frau, die den Blog führt. Im Wort Identitti finden wir nicht nur die indisch-englische Aussprache des Worts ‚identity‘, wir finden in dessen zweiten Teil auch den Vulgärausdruck für die weiblichen Brüste. Selbstfindung also einer jungen Frau, erst in zweiter Linie im sexuellen Bereich. Selbstfindung nicht nur im Bett, sondern generell gegenüber Männern. Mixed-Race Wonder-Woman, erfahren wir später, führt nämlich zu dem Zeitpunkt, als wir sie im Buch kennen lernen, eine keineswegs glückliche und keineswegs von ihr bestimmte On-und-Off-Beziehung mit einem jungen Mann namens Simon, weil es jedes Mal Simon ist, der das On und das Off bestimmt, und sie sich jedes Mal riesig freut, wenn er zu ihr zurück kehrt und tieftraurig wird, wenn er geht. Eine krank machende Beziehungsform.
Aber die Selbstfindung als Frau steht hinter einer anderen Selbstfindung zurück: der im weitesten Sinn sozialen. Nivedita (so heißt Mixed-Race Wonder-Woman im ‚richtigen Leben‘) ist nämlich eine PoC1). Als Frau mit indischen Wurzeln gehört sie nicht ganz zu Deutschland. Im Gegensatz zu ihrer Cousine Priti, die in der englisch-indischen Diaspora aufgewachsen ist, hat Nivedita aber in Deutschland nicht nur keinerlei nennenswerte Diaspora, in der sie sich ihrer indischen Identität versichern könnte. Sie kann nicht einmal eine komplette indische Identität vorweisen. Nur ihr Vater nämlich, ein Mathematiker, der nach Deutschland kam, um dort an einem Gymnasium Mathematik zu unterrichten, ist Inder. Ihre Mutter Birgit (mit der sie bezeichnenderweise im Dauerstreit liegt) ist Deutsche. Und eigentlich nicht einmal dies: Die Familie der Mutter ist aus Polen eingewandert.2) Nur im Blog jongliert Nivedita (meistens) sicher und erfolgreich mit ihren verschiedenen Identitäten als Frau, als Inderin, als Deutsche, als Polin. Im realen Leben ist sie völlig verunsichert.
Da kommt es ihr nur gelegen, dass seit Neuestem an der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf eine Professorin namens Saraswati, ebenfalls eine indische PoC, einen Lehrstuhl für Intercultural Studies und Postkoloniale Theorie inne hat, bei der sie nun seit drei Jahren schon studiert und demnächst eine Dissertation einreichen will. Die eigentliche Handlung des Romans fängt dann damit an, dass sich herausstellt, dass Saraswati gar nicht Saraswati heißt, sondern Sarah Anna und dass sie auch keine Inderin ist, sondern deutscher Herkunft.3) Was bisher für Nivedita postkoloniale Theorie war, wird nun für sie zur postkolonialen Praxis: Wie soll race4) gelebt und nicht nur gelehrt werden? Anders gefragt: Gibt es – so, wie wir heute gender fluid4) kennen – so etwas wie race fluid? Wenn man mit allen biologischen Merkmalen eines Mannes zur Welt gekommen ist, kann man sich trotzdem als Frau fühlen und ein entsprechendes Leben führen. Kann jemand, der oder die mit allen biologischen Merkmalen eines / einer Weißen zur Welt gekommen ist, sich trotzdem als PoC fühlen und so ein Leben führen?
Meine Frage klingt nun wiederum sehr abstrakt und theoretisch. Der Roman ist aber keineswegs (nur) theoretisierend. Im Gegenteil. Mithu Sanyal erzählt die Geschichte von Nivedita und Saraswati witzig und rasant. Und zum Glück für den Roman schildert sie die spätpubertären Probleme Niveditas mit ihren Männern, ihrer Hautfarbe und mit ihrer Mutter mit genügend ironischer Distanz, so dass jede Larmoyanz vermieden wird. Einzig zwei Dinge wollen mir nicht gefallen.
Da ist zum einen der Schluss. Wie so viele Gegenwartsautor:innen kann sich auch Sanyal der Versuchung nicht enthalten, am Ende noch einen drauf setzen zu wollen. So erscheint Kali, die bisher nur eine den andern unsichtbare innere Gesprächspartnerin von Nivedita war, plötzlich allen vier Hauptbeteiligten des Dramas – neben Nivedita und Saraswati noch Niveditas Cousine Priti (die Nivedita, wie sie nun erkennt, vor allem deshalb so sehr verehrt hat, weil sie als ‚vollgültige‘ PoC so etwas wie Niveditas Zugehörigkeits-Garantie zu dieser Volksgruppe war) und Saraswatis Bruder Raji. Mehr noch: Um die üblen Geister der Eltern von Saraswati und Raji zu exorzieren, begeben sich die vier (bzw. fünf mit Kali) auf den nahe gelegenen Friedhof, um dies auszuführen. Natürlich mitten in einem Gewitter. Irgendwie gelingt der Exorzismus – auch wenn Nivedita im Nachhinein feststellen muss, dass das Grab, um das herum diese Inszenierung stattfand, keineswegs die Namen der Eltern von Saraswati und Raji trägt, sondern den Nachnamen Hammer und den Vornamen Josef.5) Nivedita, könnte sie ihren eigenen Roman lesen, würde wohl sagen, dass dieser Schluss „too much“ ist, und ich muss ihr zustimmen: Die Autorin hätte das gleiche Resultat mit weniger Aufwand erreichen können.
Störend dann auch immer wieder die Figur Saraswati. Noch und noch liefert sie dozierend Informationen über Rassismus und Kolonialismus, die größtenteils banal sind, aber mit dem Ton höchster Wichtigkeit und absoluter Neuigkeit vorgetragen werden. Man merkt die pädagogischen Absichten der Autorin und ist verstimmt.
Dennoch: Witzig, ironisch und temporeich geschrieben ist der Roman ja. Weshalb ich ihm den seltsamen Schluss fast, und Saraswatis Dozieren beinahe ganz vergebe. Für einen Erstling ist Identitti sehr gut gelungen. (Was auch daran liegen wird, dass die Autorin keine 20 mehr ist, sondern 50, und bereits ein paar andere Bücher – allerdings im Sachbuchbereich – veröffentlicht hat.) Ich hatte mich ja schon für den Titel interessiert, bevor die Long-List des Deutschen Buchpreises 2021 vorgestellt wurde, auf der er dann figurierte6), denn er schien in satirisch gebrochener Fiktion die Diskussion weiter zu führen, die ich in der letzten Zeit mit den Büchern von Carolin Emke und – vor allem – Caroline Fourest dokumentiert habe. Identitti hat meine Erwartungen erfüllt und mehr verlange ich nicht.
Mithu Sanyal: Identitti. München: Hanser, 2021. Gelesen in der Lizenzausgabe der Büchergilde.
1) PoC ist ein aus den USA eingeschleppter Ausdruck, den wir im Deutschen heute verwenden, weil wir uns nicht einmal mehr trauen, „farbig“ zu sagen, wenn wir Nicht-Weiße meinen. PoC klingt unverfänglich, wissenschaftlich und klinisch sauber. (Obwohl Saraswati einmal dozieren wird, dass, was in den USA PoC sind, nicht dasselbe ist, was in Deutschland gemeint sei. Während nämlich in den USA alle Weißen gegenüber den PoC einen einheitlichen Block bilden, sind in Europa nicht alle Weißen gleich. Wir kennen auch den Ausdruck Ausländer, mit dem wir zum Beispiel einen Polen von einem Deutschen unterscheiden – auch im sozialen Status, und auch wenn beide gleich „weiß“ sind.)
2) Womit, nebenbei gesagt, die Autorin Mithu Sanyal ihrer Protagonistin einen Teil der eigenen Biografie geliehen hat.
3) Den auf diese Entdeckung folgenden ‚Shit-Storm‘ im Internet hat Mithu Sanyal sehr realistisch geschildert. Die Empörungswut der ach so PC-People hat sie ja am eigenen Leib erfahren, als sie im Zusammenhang mit Frauen, die von sexueller Gewalt betroffen waren, an Stelle des Ausdrucks ‚Opfer‘ die Verwendung der Formulierung ‚Erlebende sexualisierter Gewalt‘ vorgeschlagen hatte, und feministische PC-People darin eine Verharmlosung von Vergewaltigung sahen, weil sie in ihrem engen Wortschatz ‚Erlebnis‘ offenbar nur in Verbindung mit Friede-Freude-Disney-Park kannten. Dass Leute auch Übles erleben können, war ihnen anscheinend gänzlich unbekannt.
4) Der ganze Roman ist gespickt mit englischen Fachtermini. Was einerseits daran liegt, dass entsprechende Studiengänge zuerst in den USA entwickelt wurden, und andererseits daran, dass die Protagonist:innen allesamt im universitärem Milieu agieren. Ich war mir bei der Lektüre nicht sicher, ob ich mich nun darüber ärgern solle, oder die Kunst der Autorin bewundern, die Jargon-Verliebtheit dieses Milieus derart zu karikieren.
5) Eine Anspielung auf den Orientalisten Joseph von Hammer-Purgstall, der ja auch transkulturell gelebt war, sich gerne östlich kleidete und nicht nur übersetzte? (Allerdings war Hammer-Purgstalls Osten eher osmanisch-persisch angehaucht.)
6) Identitti schaffte es auch noch auf die Short-List. Gewonnen hat dann allerdings ein anderes Buch.