Ascona war zu Beginn der 1930er, dem Moment, wo die Handlung des vorliegenden Romans einsetzt, keineswegs mehr nur ein kleines, unbedeutenden Fischerdörfchen am Lago Maggiore im Schweizer Kanton Tessin. Seit einiger Zeit schon fand sich dort eine nicht unbedeutenden deutsche Kolonie zusammen, die vorwiegend aus Künstlern und als Kunstmäzene auftretenden Millionären bestand. Auch Erich Maria Remarque, von dem dieser biografische Roman erzählt, besaß zum Zeitpunkt der Erzählung ein Haus in Ascona und hatte seinen Hauptwohnsitz dorthin verlegt.
Im Prolog des Romans treffen wir Erich – Edgar Rai nennt den Protagonisten seines Romans meist beim Vornamen, ich werde es hier so halten, dass ich von Erich spreche, wenn ich Rais Figur meine und von „Remarque“, wenn ich die historische Gestalt des deutschen Autors meine – Erich also treffen wir zu Beginn in einem Berliner Hotelzimmer. Er ist dort, um das Manuskript seines neuesten Romans seinem Verleger zu übergeben und hat gerade die Nacht mit seiner Geliebten Ruth verbracht. Nun steht diese am Fenster und schaut hinaus in die bitterkalte Nacht. Es ist der Morgen des 30. Januars 1933, und es ist ein offenes Geheimnis, dass noch an diesem Tag Hindenburg den Nationalsozialisten Adolf Hitler zum Reichskanzler ernennen wird. Ruth erkennt in den Gestalten, die sich um diese unchristliche Uhrzeit auf der Straße unten tummeln, SS-Leute. Und sie realisiert, dass Hitler, einmal an der Macht, keine Zeit verlieren wird, sondern sich sofort daran machen wird, seine Feinde und Gegner zu eliminieren. Und sie realisiert ebenso, dass der durch seinen pazifistischen Roman Im Westen nichts Neues berühmt gewordene Erich zu den ersten Opfern des Regimes zählen würde. Sie dringt auf ihn ein, sofort in sein Auto zu steigen und zurück nach Ascona zu fahren. Nach anfänglichem Zögern gehorcht ihr Erich. Das einzige, das er mitnimmt, als er noch in der gleichen Nacht in seinen weißen Lancia steigt, ist die Mappe mit dem Manuskript seines neuesten Buchs Pat. (Der weiße Lancia, nebenbei, wird immer wieder erwähnt, und er spielt auch auf den letzten Seiten des Romans noch einmal eine wichtige Rolle. Er gehört wohl zu den zehn am meisten genannten Protagonisten des Textes.)
Nach vierzehn Stunden Fahrt finden wir Erich in Ascona, und der Rest des Romans dreht sich nun um die Zeit seines Exils, die der Autor dort zu Hause war. Doch bereits der Prolog gibt die drei hauptsächlichen Themenkreise des Romans vor.
Da ist zunächst die ‚Makro-Geschichte‘ des Nationalsozialismus, von Hitlers Machtübernahme in Deutschland bzw. deren Konsolidierung durch Terror, danach – als die Nazis das Deutsche Reich auf sicher hatten – die Einverleibung weiterer ‚deutscher‘ Territorien, Sudetendeutschland, Österreich etc., bis hin schließlich zum Abschluss des Nicht-Angriffspaktes zwischen Hitler und Stalin. Das ist der Moment, an dem der Roman endet, weil es der Moment ist, an dem Erich (und Remarque!) Europa Richtung USA verlässt. Das Buch erzählt (auch) die ‚Mikro-Geschichte‘ der deutschen Kolonie in Ascona. Die meisten Mitglieder sind bildende Künstler oder Schriftsteller. Es kommen temporär Gestalten hinzu: Ein junger Jude namens Mendelssohn, den Erich in seiner Villa versteckt, der aber eines Tages trotzdem tot auf deren Umschwung gefunden wird – Schädelbruch. Die Polizei erkennt auf Unfall; Erich ist sich sicher, dass ihn die Gestapo umgebracht hat. Die mittellose Else Lasker-Schüler taucht auf, die in Zürich von der Fremdenpolizei bereits aufs Genaueste beobachtet wird. Ernst Toller mit seiner Mappe, in der er – was alle in der deutschen Kolonie wissen – einen Strick umher tragen soll, mit dem er sich im schlimmsten aller Fälle umbringen will. Beide kommen und verschwinden wieder, wie auch andere Gestalten – Einheimische und Deutsche. Auch Gestapo-Spitzel sind wohl darunter. Die deutsche Kolonie hält sich regelmäßig übers Radio auf dem Laufenden über die Geschehnisse in Deutschland und darüber hinaus. Die Bücherverbrennung hören sie in einer Direktübertragung mit. Dann trudeln auch die ersten Nachrichten über Todesfälle von Kollegen ein: Tucholsky, der in Göteborg Selbstmord begeht; Toller, der dasselbe in New York tut; Roth, der sich in Paris zu Tode gesoffen hat. (Was Erich am meisten beunruhigt; schließlich ist er sich dessen bewusst, dass auch sein eigener Alkoholkonsum viel zu hoch ist. Aber er beruhigt sich damit, dass er vor allem Wein trinke, während sich Roth mit Absinthe umgebracht hat.)
Damit sind wir beim zweiten Thema, den künstlerisch-schriftstellerischen Nöten Erichs. Als er das Manuskript aus Berlin, wo er es eigentlich seinem Verleger hatte übergeben wollen, wieder mitnimmt, geschieht dies in einem unbestimmten Gefühl, dass der vermeintlich fertige Roman doch noch einer grundlegenden Bearbeitung bedürfe. Im Folgenden werden wir sehen, wie er in Ascona mit dieser Überarbeitung kämpft. Das unbestimmte Gefühl lässt ihn zu Beginn noch nicht erkennen, was er wie ändern solle. Er versucht sich am Schreiben, bringt aber kaum etwas zu Papier. Er rutscht mehr und mehr in eine Schreibblockade, die er mit Wein lösen will. Ja, in seiner Verzweiflung nimmt er sogar eine Überdosis Veronal zu sich – so halb in der Hoffnung, den nächsten Tag nicht mehr erleben zu müssen. Er überlebt, leidet weiter und trinkt weiter viel zu viel Rotwein. Alles in allem gehören die Szenen, wie Erich mit seinem Manuskript kämpft, daran leidet und sich damit auseinandersetzt, zu den besten des Buchs. Nein: Sie sind die besten.
Drittes Thema: Erich und die Frauen. Rai vermittelt den Eindruck, dass Erich ungefähr jede Frau verführt, die nur einigermaßen willig ist. Aber es sind vor allem zwei Frauen, mit denen Erich eine Affäre hat, die ausführlicher geschildert werden. Da ist zuerst einmal Jutta. Er war einmal mit ihr verheiratet, aber die beiden ließen sich scheiden. In Ascona treffen sie sich wieder, und wieder finden sie zusammen. Allerdings ist ihr Zusammensein vor allem geprägt durch obsessives Verhalten auf beiden Seiten, das sich auch in zum Teil recht gewalttätigem Sex äußert. Jutta wohnt eine Zeitlang in Erichs Villa und nimmt diese praktisch vollständig in Beschlag. Sie geht aber dann doch und wird abgelöst durch niemand Geringeres als – Marlene Dietrich. Doch auch mit der Dietrich entwickeln sich ähnliche Verhaltensmuster wie mit Jutta. Eigentlich will Erich gar nicht, bettelt aber dann wie ein Schuljunge, wenn sie ihn einmal nicht erhört. Wenn sie es aber tut, ist der Sex ähnlich gewalttätig-pervers wie bei Jutta. Ähnlich oder sogar identisch, denn – und das ist mein großer Kritikpunkt: Rai schildert den Sex, den Erich mit Jutta und mit Marlene Dietrich hat, viel zu ausführlich. Selbst hoch gerühmte Autoren kriegen Sex-Szenen in ihren Romanen nicht hin, ohne dass diese lächerlich werden. Man sollte von so etwas generell die schreibenden Finger lassen. Hier kommt hinzu, dass die Ähnlichkeit der Szenen dazu führte, dass ich mich in einem Moment der Unaufmerksamkeit tatsächlich gefragt habe, ob der gute Erich nun gerade Jutta oder Marlene pimpert.
Damit haben wir die drei Säulen, auf denen der Roman beruht, kurz vorgestellt: die geschichtliche (vor allem in der Schilderung des Lebens der deutschen Subkultur in Ascona nicht schlecht dargestellt), die der Schreibnöte eines Schriftstellers, und die dessen Liebeslebens (mit viel zu ausführlichen Sex-Szenen). Einzig das titelgebende Ascona zeichnet sich durch praktische Nicht-Existenz aus – der Roman hätte irgendwo spielen können, wenn nicht zufälligerweise Remarque tatsächlich den Anfang seines Exils im Tessin verbracht hätte.
Und dann ist da noch der Schluss des Roman. Wieder ist es eine Frau (diesmal Marlene Dietrich), die Erich dazu bringt, kurz vor der offiziellen Verkündigung des Hitler-Stalin-Pakts nach Frankreich zu fahren und dort ein Schiff nach den USA (wo Dietrich unterdessen wieder lebte) zu nehmen. Noch einmal besteigt Erich den weißen Lancia (mit dem er in der Zwischenzeit mehr oder weniger betrunken vor allem die Bergstraßen rund um Ascona unsicher gemacht hatte) und fährt los. Aber diesmal lässt ihn sein Auto im Stich. Nachdem der Lancia noch einmal in Paris kurzfristig repariert werden kann, gibt er auf dem Weg in den Süden kurz vor dem Ziel endgültig den Geist auf – Zylinderschaden. Erich erreicht im letzten Moment sein Schiff. Der Roman schließt mit den Gedanken, die er hat, als dieses ablegt. Die Reise über den Ozean war ein Wagnis, das er mit dem Tod bezahlten konnte, denn schon 1939 machten deutsche U-Boote die Meere unsicher und schossen auch auf neutrale Passagierdampfer. Doch gerade jetzt ist Erich noch am Leben und freut sich insgeheim darüber. Das Morgen interessiert ihn nicht. Mit dem letzten Satz des Romans erinnert sich Erich an einen Satz, den damals der junge Jude Mendelssohn geäußert hatte: Solange man lebte, war es noch nicht vorbei.
Ein guter, wenn auch etwas melodramatischer Schluss, der nur durch einen winzigen Umstand entwertet wird: Auch wenn Erich das zum Zeitpunkt der Abreise noch nicht weiß – wir heutige Leser wissen, dass Remarque wohlbehalten in New York ankommen wird. Und wir wissen, dass er – anders als andere deutsche Emigranten – in den USA nicht schlecht lebte, waren doch seine Bücher dort sehr beliebt und verkauften sich gut (auch sein neuestes Buch, Drei Kameraden, das Buch, das einmal Pat geheißen hatte, das er endlich doch beenden konnte – allerdings erst zu einem Moment, als er in Deutschland schon nicht mehr publizieren durfte). Und das verpasst dem letzten Satz einen für meinen Geschmack zynischen Unterton, der wohl von Rai nicht intendiert war.
Alles in allem kein übles Buch. Die Sprache ist glatt und gut lesbar, ohne stilistische Besonderheiten. Erich wird lebendig geschildert und wirkt glaubwürdig. Mehr kann man von einem biografischen Roman nicht verlangen
Edgar Rai: Ascona. München: Piper, 2021
Sorry, aber das klingt nach: völlig überflüssig. Eher würde ich noch was von Remarque lesen, bei dem ich bisher über „Im Westen nichts Neues“ sowie die Parodie von Robert Neumann („very remarkable“) nicht hinausgelangt bin, wobei diese sich offenbar auf spätere Werke bezieht, wie „Arc de Triomphe“, Emigrantenroman, wenn, dann werde ich es vielleicht damit versuchen, noch schlechter als Klaus Manns „Vulkan“ kann das kaum sein.