Bei Schnee handelt es sich um die Fortsetzung von Die Nacht des Dr. Herzfeld. Es ist eine Fortsetzung mit anderen Mitteln und – das will ich gleich festhalten – bedeutend weniger geglückt als sein Vorgänger. Das erklärt sich vielleicht schon aus dem zeitlichen Abstand, der zwischen den beiden Romanen besteht. Die Nacht des Dr. Herzfeld spielt, wie man aus einer Bemerkung eines Dittopassablen im Gespräch schließen kann, im Jahr 1910; veröffentlicht wurde der Roman 1912. Schnee wiederum spielt im November 1916, wie gleich ganz am Anfang klar gemacht wird. Veröffentlicht wurde dieser Roman 1922. Wir haben also die Situation vor uns, dass der Autor bereits um den Ausgang jenes Krieges wusste, der später als der Erste Weltkrieg in die Geschichte eingehen sollte, während seine Figuren noch nichts darüber wissen können. In Die Nacht des Dr. Herzfeld standen sowohl Autor wie Figuren noch am Vorabend jenes Krieges.
Im Leben der Protagonisten hat in den sechs Jahren, die für sie seit den Ereignissen von Die Nacht des Dr. Herzfeld vergangen sind, einiges geändert. Herzfeld ist in eine andere Gegend umgezogen. Seine Kunstgegenstände und seine Bibliothek hat er mitgenommen. Aber die Verbindung zu einem ehemaligen Freund Hermann Gutzeit ist lockerer geworden; Herzfeld kritisiert ihn nun auch harscher als damals – nicht direkt, nein, aber zum Beispiel in einem (letztlich nicht abgeschickten) Brief und natürlich in seinen Gedanken. Gutzeit ist für seinen Geschmack zu sehr im Tagesgeschäft des Feuilletons hängen geblieben. Hingegen hat sich in den vergangenen sechs Jahren Herzfelds Beziehung zu Kurt, dem älteren Sohn Gutzeits, sehr verändert. Kurt ist eine Art geistiger Ziehsohn Herzfelds geworden, wurde in seine Bibliothek und in letzter Zeit auch langsam in seine Kunstsammlung eingeführt. Herzfeld setzte große Hoffnungen in Kurt.
Der Roman setzt ein mit einem Paukenschlag. Gleich zu Beginn erfahren wir, dass Kurt – ebenso wie sein jüngerer Bruder Hans (der allerdings lieber Fußball spielte statt sich mit geistig-philosophischer Kost zu stärken) – innerhalb weniger Stunden beide im Krieg gestorben sind. Der Roman erzählt im Folgenden, wie Herzfeld den Tod seines Lieblings verarbeitet – oder eben nicht verarbeitet.
Das Ganze beginnt mit einer ausgezeichneten Schilderung des Treibens auf dem nächtlichen Güterbahnhof, den Herzfeld vom Fenster seines Arbeitszimmers aus sieht. Denn Herzfeld kann nicht schlafen. Er kann aber auch nicht (mehr) arbeiten, und so beschließt er am Morgen früh zu verreisen. Lange marschiert er in seiner Bibliothek auf und ab, um die richtige Lektüre für seine Reise zu finden. (Eine Reminiszenz an ähnliche Szenen in Huysmans‘ Gegen den Strich?) Schließlich entscheidet er sich für einen Band Goethe. (Er wird unterwegs kaum darin lesen; das eine Mal, wo er es tut, empfindet er ihn als unpassend.) Er will nach Gastein fahren, wo eine Unterkunft auf ihn wartet. Noch die Schilderung, wie er in einer alten Droschke mit einem alten, wegen der Knappheit an jungen Leuten reaktivierten Kutscher und einem beinahe noch älteren Kutschpferd zum Bahnhof fährt, sind sehr gut geraten in ihrer Schilderung von Berlin und seinen Einwohnern.
Dann fahren wir mit Herzfeld eine lange Zeit nach München. Wohl gibt die Situation in seinem Coupé dem Autor die Gelegenheit, die einen oder die anderen Typen deutschen Wesens vorzustellen – einen Querschnitt durch die deutsche Bevölkerung und ihr Denken zu jener Zeit sozusagen. Aber mehr und mehr macht es sich bemerkbar, dass Herzfeld ein Gesprächspartner fehlt, wie er ihn in Die Nacht des Dr. Herzfeld im Freund Gutzeit hatte. Die paar eingestreuten kurzen Dialoge Herzfelds mit Fremden sind kein Ersatz – es fehlt die eigenartige Spannung und doch Übereinstimmung, die zwischen Herzfeld und Gutzeit existierte. Mehr und mehr driftet der Autor auch in die Ich-Form ab, lässt uns so zu sagen direkt an den Gedanken Herzfelds teilhaben. Der seinerseits driftet mehr und mehr in Erinnerungen an die alten Zeiten ab, bis er schließlich bei jener Kokotte hängen bleibt, die er damals Rehchen nannte, die auch in Die Nacht des Dr. Herzfeld kurz im Boulevard-Café aufgetaucht ist, und die nun mehr und mehr Raum in Herzfelds Denken einnimmt. Am meisten scheint ihn beeindruckt zu haben, dass sie ihn damals immer Horace Walpole genannt hat – ich vermute einen versteckten Hinweis des Autors darauf, dass Herzfeld sein Leben lang nicht zu arbeiten brauchte, weil er offenbar von Haus aus vermögend genug war für ein Leben ohne Brotberuf.
Das geht so weit, dass er in München, wo Rehchen nun lebt, aussteigt und seine ehemalige Geliebte besuchen will. Er hat sich unterdessen selber überredet, dass er eigentlich immer nur Rehchen geliebt hätte und sie immer nur ihn, und dass sie insgeheim nur darauf warte, dass er sie wieder hole und mit ihr den Rest seines Lebens verbringe. Er weiß zwar, dass sie unterdessen geheiratet hat, verschwendet aber kaum einen Gedanken daran. Es kommt, wie es kommen musste: Als er sie besucht, begrüßt sie – unterdessen eine gutbürgerliche Kaufmannsgattin – ihn in ihrem Salon. Sie ist hochschwanger und zeigt keinerlei Neigung, ihren Gatten zu verlassen. So wenig Neigung in der Tat, dass Herzfeld sich nicht einmal zu fragen getraut.
Herzfeld reist ab, nach Gastein, um dort – nach einem letzten Gespräch mit einem der Dittopassablen, der dort unterdessen auch im Soldatengewand steckt – im Schnee zu erfrieren.
Alles in allem muss ich also sagen, dass einem nachgerade grandiosen Beginn ein immer melodramatischer werdendes Versinken des Autors in den Gedanken Herzfelds folgt – eines Herzfeld, der bei weitem nicht mehr die souveräne Überlegenheit aufweist, mit der er noch in Die Nacht des Dr. Herzfeld mit seinem Freund Gutzeit argumentiert hat. Ja, seine damalige ironische Überlegenheit hat sich in arrogante Besserwisserei verändert. Als Herzfeld Berlin verlässt, verlässt er auch den guten Geist der Geschichte. Oder der Geist verlässt ihn, bzw. den Autor. Die Beschreibung des verschneiten nächtlichen Güterbahnhofs mit seinem kalten elektrischen Licht gehört in jede Anthologie mit Szenen einer technisch veränderten Natur. Den ausserhalb von Berlin spielenden Teil von Schnee braucht man – im Gegensatz zu Die Nacht des Dr. Herzfeld (die aber zur Gänze in Berlin handelt!) – nicht zu kennen. Dass die Misere, die der Erste Weltkrieg mit sich brachte, am Exempel eines rund 50-jährigen, nicht übel situierten und allein stehenden Mannes statuiert wird, grenzt an Verachtung für das echte Leiden, das der Krieg verursachte und das zum Beispiel der zeitgenössische Expressionismus so deutlich zu schildern wusste.
Georg Hermann: Die Nacht des Dr. Herzfeld und Schnee. Mit einem Nachwort von Lothar Müller. Berlin: Die Andere Bibliothek, 2021. (= Band 442)