Theodor W. Adorno: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben

Wir alle kennen diesen Nachbarn oder Arbeitskollegen, der nicht nur alles weiß, sondern auch alles besser weiß, der alles erklären kann, warum es ist, wie es ist, aber auch gleich hinzufügt, wie es eigentlich sein sollte, wenn es so sein sollte, wie es am besten wäre. Das Maskulinum in vorhergehendem Satz ist dabei keineswegs generisch gemeint; es sind praktisch immer Männer, die so reden. Frauen kennen dies als ‘Mansplaining’ – wenn die Männer alles besser wissen. Aber es gibt auch Männer, die gegenüber andern Männern ins ‘Mansplaining’ verfallen. So ein Erklärbär war auch Theodor Ludwig Wiesengrund, der sich später Theodor W. Adorno nennen sollte.

Neben der zusammen mit Max Horkheimer verfassten Dialektik der Aufklärung sind wohl die Minima Moralia sein bekanntestes Werk. Geschrieben in den letzten Jahren des Zweiten Weltkriegs und als eine Art Gabe gedacht zu Horkheimers 50. Geburtstag. Üblicherweise werden ja solche Gaben von einer Gruppe von Kolleg:innen mittels zusammengestellten Aufsätzen als so genannte ‘Festschrift’ überreicht. Adornos Hybris ging so weit, dies im Alleingang zu bewerkstelligen. Die Minima Moralia bestehen aus drei Abschnitten, die den drei Phasen der Niederschrift entsprechen. Diese Abschnitte wiederum enthalten (nummeriert und mit kurzen Titeln versehen, die Adorno jeweils an den Anfang des ersten Abschnitts einer neuen Nummer stellte) kürzere oder längere Texte zu verschiedensten Themen – im weitesten Sinn des Wortes kann man von ‘Aphorismen’ reden. Thematisch kunterbunt und keineswegs geordnet, wirken sie auf einen, wie wenn er hier quasi frei von der Leber weg einfach hingeschrieben hätte.

Unter den Themen am meisten aufgefallen sind mir kulturkritische Ansätze, soziologisch-politische (zum Faschismus vor allem), zur Philosophie, zur Psychoanalyse, zur Ästhetik und zur Poetologie, ein bisschen zur Wissenschaftstheorie und auch ein wenig zur – wie es der Titel ja suggeriert – Ethik. Methodologisch orientiert sich Adorno vorwiegend an Hegel. Nun ist schon Hegels Dialektik kaum verständlich oder nachvollziehbar. Diejenige Adornos noch weniger. Doch es gibt einen Aphorismus, in dem Adorno indirekt genau dies zur wahren Philosophie erklärt – nämlich als er jene Denker heruntermacht, die sich bemühen, klar, logisch und folgerichtig Zusammenhänge darzustellen. Nur das Dunkle ist für ihn offenbar philosophisch wertvoll, weil es die Lesenden zum Nachdenken auffordert. Obwohl er damit verdächtig nahe an Heidegger kommt, nennt er ihn im ganzen Buch äußerst selten – nicht einmal negativ.

Am meisten scheint – natürlich – Hegel auf. Dann folgt ein anderer großer Rauner und Erklärbär der Philosophie – Nietzsche. Die beiden Philosophen des Deutschen Idealismus, die am meisten versuchten, sich klar auszudrücken, Kant und Schopenhauer, fristen dagegen bei Adorno ein Schattendasein. Selbst Kierkegaard erscheint häufiger. Musik spielt – mit Ausnahme von Wagner, den er wohl von Nietzsche geerbt hat – ebenfalls die zweite Geige. Literarisch sind es – wenn wir von einem Aphorismus zu Anatole France absehen – ebenfalls eher die dunklen Rauner, die Adorno faszinieren: Ibsen, Baudelaire, Hölderlin, Kafka. Auch Edgar Allan Poe könnte man hier nennen. Daneben ein, zwei Aphorismen zum Thema ‘Satire’, und so tauchen auch Juvenal und Karl Kraus in den Minima Moralia auf. Last but not least natürlich Sigmund Freud, während Marx und der Marxismus verblüffend selten direkt angesprochen werden.

Alles in allem: Nichts für mich. Ich hatte mir das Buch (Bibliothek Suhrkamp 236) zusammen mit der Dialektik der Aufklärung gekauft, als ich noch der Meinung war, Adorno müsste man gelesen haben. Heute bin ich anderer Meinung. Mag sein, ich werde mich hier irgendwann einmal doch noch zur Dialektik der Aufklärung äußern. Im Moment reicht es aber. Das Buch werde ich bei Gelegenheit in einen öffentlichen Bücherschrank stellen.

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