Schon ein paar Mal habe ich hier meine Ansicht kund getan, dass für mich das so genannte ‚Viktorianische Zeitalter‘ im Grunde genommen bereits bei Jane Austen beginnt und erst mit Agatha Christie endet. Das gilt vor allem in Bezug auf gewisse Besonderheiten der englischen Gesellschaftsordnung und die damit verbundene Position der Frau. Ausgeprägter als im übrigen Europa gab es nämlich in England schon sehr früh eine gesellschaftliche Schicht, die ich den oberen Mittelstand nennen möchte: Inhaber kleiner Industriebetriebe, zum Teil Advokaten und Pfarrherren – Leute also, die zwar genug Geld verdienten, um sich ein Haus (meistens auf dem Land) leisten zu können und ein paar Dienstboten für die nötigen Hausarbeiten dazu. Es wurde vom ältesten Sohn erwartet, dass er den Beruf und die Berufung des Vaters übernahm. Wenn der ausscherte, waren halt die jüngeren Brüder gefragt. Von den Töchtern hingegen erwarteten die Eltern ’nur‘ eine standesgemäße Heirat. Wer nicht bis Mitte Zwanzig, spätestens Anfang Dreißig unter die Haube gekommen war, galt als alte Jungfer und war dazu verurteilt, ihr Leben bei einem der verheirateten Geschwister oder bei sonstigen Verwandten zu verbringen – als Gratis-Kindermädchen durchgefüttert oder als Haushälterin. Jane Austen (1775-1817) erlebte dieses Schicksal persönlich (und führte wohl deshalb alle ihre Heroinen in den Hafen der Ehe), Agatha Christie (1890-1976) kannte es nur ansatzweise und nur für ihre Figur Miss Marple – während Sylvia Townsend Warner (1893-1978) haarscharf daran vorbei schrappte.
Ihr Roman Lolly Willowes; or The Loving Huntsman erzählt die Geschichte genau so einer Frau aus dem oberen Mittelstand. Laura Willowes war ein verträumtes aber eigenwilliges Kind, das die Eltern (vor allem der Vater) mehr oder weniger machen ließen, was es wollte. Später interessierten sie Männer offenbar kaum; es ist fraglich, ob sie überhaupt realisierte, warum ihre Mutter all die jungen Galane einlud. Irgendwann war sie dann 30 Jahre alt und verschwand damit auf den aller-allerobersten Regalen des englischen Heiratsmarktes. Als dann ihr Vater, Inhaber einer kleinen Bierbrauerei in der Provinz, starb, und keiner der beiden Söhne die Brauerei übernehmen wollte, war klar, dass das ehemalige Elternhaus vermietet und die Brauerei verpachtet werden sollte. Laura, die man gar nicht erst fragte, wurde dem älteren Bruder als Erbstück zugeteilt, der in London als Anwalt praktizierte. Obwohl sie gern geblieben wäre, reiste sie ohne zu murren nach London. Sie liebte diese Stadt keineswegs; wenn sie durch die Strassen wanderte, kam sie sie in Gedanken immer so, wie von Defoe in seinem Journal beschrieben: Tote und Sterbende, Klagende und Weinende sah sie vor ihrem geistigen Auge. Zu Hause beim Bruder amtierte sie als Gratis-Kindermädchen und war für alle bald nur noch Tante Lolly.
Als die die Nichten und Neffen aus dem Haus waren, ja langsam bereits deren Kinder wieder zu Besuch kamen und sie immer noch Tante Lolly war, ging plötzlich ein Ruck durch die 50-jährige Frau:
Während des Essens sah sich Laura ihre Verwandten an. Sie hatte das Gefühl, als wäre sie selbst unverändert aus zwanzigjährigem Schlaf erwacht, während die anderen fast nicht mehr wiederzuerkennen waren.
Am Ende des Essens wird sie, die schon seit längerem immer und immer wieder intensiv Landkarten von England studiert hatte, plötzlich ihre Familie nach Great Mop einladen – den Ort, den sie sich in ihrem Träumen als neuen Wohnort für sich alleine ausgesucht hat. Auf diese Weise gibt sie ihre Auszugs- und Emanzipations-Pläne bekannt. Sie findet denn auch eine kleine Wohnung in Great Mop und genießt es, auf dem Land zu sein, wo sie niemand kennt und sie niemandem Rechenschaft ablegen muss darüber, wie sie den Tag verbracht hat, sie für niemand mehr da sein muss. Eines Tages aber kommt ihr Neffe Titus zu Besuch, verliebt sich ebenfalls in die Gegend um Great Mop und bleibt bei seiner Tante. Ja: Wieder ist sie Tante, wieder muss sie für jemand da sein, wieder bricht jemand in ihre Träume ein. Das viktorianische Joch scheint sie nicht abschütteln zu können.
Doch dann kommt Hilfe. Also, eigentlich kommt zunächst eine kleine halb verhungerte schwarze Katze in ihre Wohnung:
»Wie bist du denn hereingekommen? Bist du durchs Schlüsselloch gekrochen?«, fragte sie und bückte sich, um das Kätzchen zu streicheln. Kaum hatte sie seinen kleinen, harten Kopf berührt, als es sich um ihre Hand drehte und anfing, lautlos zu kratzen und zu beißen und mit seinen Hinterbeinen zu treten. Sie erschrak über diesen so heftigen und unerwarteten Angriff, und ihre Furcht verstärkte sich, als sie versuchte, das winzige Gewicht abzuschütteln. Endlich befreite sie ihre Hand und sah sie an. Sie war mit Kratzspuren bedeckt, die schnell rot wurden, und während sie ihre Hand betrachtete, bemerkte sie, wie ein leuchtender runder Tropfen Blut aus einem Kratzer sickerte.
In diesem Moment weiß Laura, dass sie mit dem Teufel einen Bund geschlossen hat und von nun an eine Hexe ist. Hier kippt der Roman endgültig vom Realismus eines Thomas Hardy ins Phantastische der Neuromantik. Allerdings erzählt Warner auch im Folgenden immer so, dass man sich als Publikum fragt, ob Laura Willowes sich nicht einfach nur alles einbildet, bzw. Zusammenhänge bildet, wo keine sind. Fakt ist aber, dass dem armen Titus mehr und mehr Missgeschicke passieren. Seine Frühstücksmilch wird ständig sauer, er wird von Wespen angegriffen, stößt sich an seiner Bettstatt usw. Laura Willowes ist überzeugt, dass der Teufel seiner Hexe zu Hilfe kommt. Nach einem für sie enttäuschenden Hexensabbat (einem dörflichen Tanzfest auf einer Weide) trifft sie endlich den Teufel persönlich und führt mit ihm ein langes Gespräch. Dieses versöhnt sie wieder mit dem Teufel und sie wird ihr weiteres Leben zufrieden und friedlich als Hexe beschließen – dies um so mehr, als Titus wieder abgereist ist und sie nach dem Gespräch davon überzeugt ist, dass der Teufel, nachdem er sie einmal akquiriert hat, sie nunmehr in Ruhe ihr Leben führen lassen wird. Und das ist für Laura Willowes das höchste Glück auf Erden.
Man kennt die Autorin kaum im deutschen Sprachraum, habe ich festgestellt. (Ich kannte sie ja auch nicht, bevor ich über den vorliegenden Roman stolperte, der mich auch nur interessierte, weil in der Verlagswerbung ein vorkommender Teufel angepriesen wurde.) Wenn wir ein wenig in ihrer Biografie schnuppern, stellen wir fest, dass Sylvia Townsend Warner ein ähnliches Schicksal wie ihre Protagonistin hatte: vom Vater verwöhnt, von beiden Elternteilen schon in frühesten Jahren mit schwerster Literatur vollgestopft (nein, sie las gern, genau so wie Laura, und es schien ihr nicht weiter zu schaden, außer, dass auch sie alle potenziellen Freier damit erschreckte). Ihre Tante ist mit Arthur Machen verheiratet, und sie besucht sie oft – was eindeutig Spuren in Lolly Willowes hinterlassen hat. Selber war sie auch eine begabte Komponistin, die bei Schoenberg in Wien studieren wollte, wobei ihr aber der Erste Weltkrieg einen Strich durch die Rechnung machte. Relativ spät entdeckte sie ihre Liebe zu einer Frau. Sie übersetzte Prousts Contre Sainte-Beuve ins Englische und veröffentlichte einen Band mit Gedichten. Aber erst dieser ihr erster Roman sollte ihr (vor allem in den USA) Ruhm bringen.
Zu Recht, wie ich sagen möchte. Die Geschichte kommt leicht und heiter daher, und es geschieht wenig bis nichts darin. Aber Warner hat es faustdick hinter den Ohren. Faustdick im wahrsten Sinn des Worts: Die Szene wie Laura in ihrem Wohnzimmer die schwarze Katze findet, in ihre eine Abgesandte des Teufels erkennt und mit diesem Teufel einen Pakt eingeht, den sie mit Blut besiegelt, ist ein herrliches und dazu unprätentiöses Pastiche auf die Szene im Studierzimmer in Faust I. Warner könnte auch Gottfried Kellers Spiegel, das Kätzchen gekannt haben. Goethes Walpurgisnacht in Faust I wird später ebenso beiläufig durch den Kakao gezogen, wenn wir hier eine Hexe haben, die das obszöne und sexuell aufgeladene Treiben auf der Tanzwiese so gar nicht mag. Anspielungen auf weniger bekannte (bzw. mir nicht bekannte) Literatur schließe ich nicht aus. Ein recht gemütlicher Teufel, und eine gemütliche Geschichte, die gut erzählt ist und doch auch noch voller Hintergründigkeit. Wie heißt es bei jenem großen Versand-Händler so vollmundig? Genau: Wer Jane Austen und Thomas Hardy liebt, wird auch Sylvia Townsend Warner mögen. Ich mag Austen wie Hardy, und auch dieses kleine Schmuckstück von Roman.
Sylvia Townsend Warner: Lolly Willowes oder Der liebevolle Jägersmann. Aus dem Englischen von Ann Anders. Mit einem Nachwort von Manuela Reichart. Zürich: Dörlemann, 2020. (Gelesen in der Lizenzausgabe der Büchergilde)