Anders, als es der Titel suggeriert, handelt es sich bei den Briefen eines reisenden Franzosen über Deutschland nicht um einen Reisebericht. Dazu passt schon der Name des Verfassers nicht. Der fehlte allerdings in der Originalausgabe, diese erschien anonym, nur mit der Bemerkung: Uebersetzt von K. R. – eine Bemerkung, die zunächst nur Riesbecks Freunde durchschauten. Warum aber Georg A. Narciss den Band in seine Bibliothek klassischer Reiseberichte aufgenommen hat – in Kenntnis des Autors und des Inhalts – vermag ich nicht zu sagen.
Riesbeck, um zunächst den heute praktisch unbekannten Autor vorzustellen, war eher eine tragische Figur seiner Zeit. Als Sohn eines Manufaktur-Besitzers konnte er zwar längere Zeit vom Erbe seines Vaters leben, aber auch das ging irgendwann zu Ende. Riesbeck, der schon immer geschrieben hatte – er war zur Zeit der Hochblüte des Sturm und Drang mit den Exponenten dieser Bewegung, Goethe, Klinger, Lenz, Wagner, befreundet und hat offenbar auch selber Stücke im Jargon des Sturm und Drang geschrieben. Diese Werke sind verschollen. Eine Zeitlang arbeitete er in Wien als Schauspieler, kam dann nach weiteren Stationen (als sein deutscher Verleger sich nicht traute, seine Briefe über das Mönchswesen herauszubringen) mit den Zürcher Verlegern Orell, Gessner, Füssli & Cie (ja, der Gessner) in Kontakt, wo er nicht nur die oben genannten Briefe herausbringen konnte, sondern auch angefragt wurde, ob er nicht für die neu gegründete Zeitung des Verlags, die Zürcher Zeitung (ja, das ist der Vorgänger der heutigen Neuen Zürcher Zeitung) arbeiten wolle. Er zog nach Zürich (der Boden in Deutschland war ihm sowieso zu heiß geworden). Doch die Zürcher Regierung agierte auf ihre Weise genau so autokratisch-absolutistisch wie die meisten deutschen Fürsten, und Riesbeck ließ sich im (damals bernischen) Aarau nieder, wo der 1754 Geborene schon mit 32 Jahren 1786 verarmt und verelendet an Tuberkulose starb.
Vorher aber schrieb er noch das vorliegende Buch. Einiges Material darin stammt tatsächlich von seinen eigenen Reisen als junger Mann. Die aber haben ihn nie über den Süden Deutschlands herausgeführt, die nördlichen Teile des Reichs beschrieb er an Hand von Berichten Dritter. (Man merkt es übrigens im Text nur schon daran, dass er plötzlich anfängt, aus Werken anderer zu zitieren, was er im Süden nicht tut.) Es sollte – wie gesagt – ja auch kein Reisebericht sein. Zu Beginn schwebte Riesbeck und dem Verlag eine Art ökomomisch-politischer Katalog der deutschen Länder vor. Aber schon bald schwenkte der Autor um auf eine mehr oder weniger satirische Schilderung einer fiktiven Reise eines Franzosen durch Deutschland. Die Satire richtete sich dabei nicht auf den Franzosen, überhaupt weniger gegen Personen, sondern vor allem gegen die Institutionen, die der fiktive Reisende auf seinem Weg antraf und deren Schilderung er in Briefen an seinen ebenso fiktiven Bruder in Frankreich schickte.
Das Buch traf auf enthusiastische LeserInnen und wurde schon von Zeitgenossen mit den Lettres persanes des Montesquieu verglichen. Damit tut man Riesbeck und seinem Buch allerdings zu viel der Ehre. Dem Deutschen fehlte sowohl das staatsphilosophische Wissen wie der präzise politische Impetus, der den Franzosen regierte. Auch hatte er natürlich in Deutschland nicht nur ein Staatsoberhaupt und eine Regierungsform zu karikieren – es waren deren Dutzende. Es sind, wenn wir schon davon sprichen, auch Spuren von Swift bei Riesbeck zu finden, den er zu jener Zeit ja übersetzte; aber auch Gullivers Reisen ist origineller und giftiger als diese Briefe hier. (Tatsächlich war Riesbecks direktes Vorbild ein anderes Buch: Die Voyages en différens pays de l’Europe von Carlantonio Pilati di Tassullo (1733–1802), einem Autor, der heute noch unbekannter ist als der Deutsche. Auch dessen Buch ist heute kaum noch zu finden, soll aber eher unterhaltender als politischer Natur gewesen sein.)
Bei Riesbeck sieht man sehr genau, wie die Aufklärung sich in Deutschland zum Sturm und Drang radikalisierte und doch ihre Wurzeln nicht ganz vergessen konnte. Wo Riesbeck lobt, sind es jene Fürsten, die einen so genannten aufgeklärten Absolutismus vertraten: Friedrich II., Joseph II., ja auch an Josephs Mutter und Mitregentin Maria Theresia findet er noch so manches Gutes, auch wenn ihn zum Beispiel deren ultrakonservative und strengst katholische Einstellung zur Ehe abstößt. Beim jungen Carl August in Weimar weiß er nicht so recht, was er von ihm halten soll; er vermerkt aber mit Genugtuung, dass sich offenbar dessen Intimus Goethe langsam von den Weggefährten aus Sturm und Drang-Zeiten zu lösen beginnt, und eben diese nicht in Weimar haben will. (Wie er überhaupt in den Briefen hier an jener Bewegung kaum mehr ein gutes Haar lässt.)
Alles in allem sollte der Vergleich mit Montesquieu einen nicht dazu verführen, zu viel von der Qualität der Briefe eines reisenden Franzosen über Deutschland zu erwarten. Es sind gute Passagen zu finden, aber auch viele Stellen, wo der Autor einfach seiner schwarzen Galle freien Lauf lässt und in einen recht rüden Ton verfällt. Als Bericht eines Augenzeugen aus dem Deutschland kurz vor dem Ausbruch der Französischen Revolution sind sie aber allemal noch äußerst wertvoll.