Nun also hier – je nach Zählweise – der zweite oder der erste Band der Saga um Gargantua und Pantagruel von François Rabelais. Es ist die Geschichte der Kindheit und Jugend von Gargantuas Sohn Pantagruel, und die seiner ersten Taten. In vielem gleicht diese Geschichte tatsächlich der von Kindheit und Jugend des Gargantua, so dass dessen Untertitel Livre plein de Pantagruelisme durchaus berechtigt ist.
Auch Pantagruel kommt als riesiges Baby zur Welt – riesig selbst für einen Riesen. So groß in der Tat ist der Kleine bei seiner Geburt, dass seine Mutter bei dieser stirbt. Gargantua ist für einen Moment verunsichert: Soll er nun um den Tod seiner geliebten Frau trauern oder sich über eine so prächtigen Sohn freuen? Er scheint sich für letzteres zu entschließen, hören wir doch in der Folge nichts mehr von der Mutter. Die frühen Jahre Pantagruels verlaufen ähnlich wie die frühen Jahre seines Vaters. Auch er findet sich eines Tages in Paris, um dort zu studieren, auch er verschreckt dort viele Leute. Selbst das Schicksal, dass er von Paris abberufen wird, um seinem Vater in einem Krieg gegen einen benachbarten König beizustehen, teilt er mit diesem. Rabelais scheint es geliebt zu haben, den alten Ritterroman zu parodieren, vor allem Ariosts Orlando Furioso.Genau so scheint er mit Vergnügen die Liebe des Altertums für ellenlange genealogische Listen zu parodieren. Ein ganzes Kapitel von Pantagruel ist einer solchen Liste von Vorfahren des Helden reserviert – und diese Genealogie reicht zurück bis in die Zeit, als die Engel mit den Menschen verkehrten (in jedem Sinn des Wortes!) und die Riesen zeugten. Ungeniert mischt Rabelais dabei biblische Mythen mit der klassischen griechischen Mythologie, so, dass auch die Titanen zu Pantagruels Vorfahren gehören. (Und der ein paar Mal zitierte Herkules sozusagen einer Nebenlinie der Pantagruel’schen Linie angehört.) Damit persifliert Rabelais natürlich vor allem die langen genealogischen Listen, die wir im Buch Genesis finden, aber auch die ausführliche Liste der Vorfahren Jesu Christi, die das Neue Testament liefert. Kein ganz unverfängliches Unterfangen für einen Benediktiner-Mönch, der Rabelais ja war. (Auch wenn er nicht predigte, sondern in Lyon am Hôtel-Dieu de Notre-Dame de la Pitié als Arzt amtete.)
Was aber den Pantagruel grundlegend vom Gargantua unterscheidet, sind zwei Dinge:
Da ist zum einen der Umstand, dass M. Alcofribas (ein Anagramm seines richtigen Autorennamens Rabelais) tatsächlich als Ich-Erzähler auftritt. Ja, in einer Art längerem Exkurs bereist Alcofribas den Körper von Pantagruel und findet zum Beispiel in seinen Zähnen ein ganzes Volk, das seit Jahren dort lebt. Diese anatomische Exkursion dauert ungefähr ein halbes Jahr! (Und ja: Lukian lässt grüßen.)
Zum anderen (und meiner Meinung nach wichtiger und interessanter) ist da die ebenfalls vorkommende Figur des Helfers. Bei Gargantua war es ein gewisser Frère Jean, der dann zum Dank für seine Arbeit mit dem Posten eines Abts in Thelema belohnt wird. In Pantagruel erscheint eines Tages ein Mann namens Panurge auf der Bildfläche. Er ist gerade aus türkischer Gefangenschaft entronnen (wie überhaupt Rabelais Geografie und Geschichte des fiktiven Reichs von Gargantua und Pantagruel gern und oft mit der Realität vermischt – so, wie auch in beiden Romanen seine Riesen tatsächlich einmal ungeheuer groß sind, einmal offenbar nicht viel größer als normale Menschen). Wenn ich bereits bei Gargantua den Roman als ‚Schelmenroman‘ verschlagwortet hatte, so war das nicht ganz korrekt, weil weder Gargantua noch Frère Jean (vom Rest ganz zu schweigen) im eigentlichen Sinne Schelmen waren. Panurge aber ist einer, wenn es überhaupt einen gibt. Er steckt voller Streiche und Hilfsmittel, kann einem Gefährten, dem im Krieg der Kopf abgeschlagen wurde, diesen wieder aufsetzen und ihn so wieder zum Leben erwecken, kann aber auch mit dem englischen Gelehrten Thaumaste ein überaus gelehrtes Gespräch nur in Zeichensprache führen. Natürlich nimmt Rabelais hier unter anderem die Kabbala mit ihren Geheimzeichen auf die Schippe und den Neupythagoreismus, der sich in eine ähnliche Richtung entwickelt hatte. Natürlich ist ein Großteil der Zeichen, die Panurge gibt, obszöner Natur. Aber erste zeichentheoretische Anstöße sind in dieser Szene durchaus gegeben. Wenn Panurge ein Schelm ist, ein direkter Nachfahre des Till Eulenspiegel, so ist er doch ein gelehrter Schelm, und damit auch ein direkter Nachfahre des Odysseus. Nach seinem Erscheinen übernimmt er während längerer Zeit das Diktat und wird zum Zentrum des Romans. Erst gegen Schluss kann Pantagruel seine eigene Geschichte wieder aufnehmen.
Und diese ist – summa summarum – vielleicht gerade wegen Panurge sogar einen Tick besser geraten als die seines Vaters Gargantua. Braucht es bei Rabelais eine Leseempfehlung?