Arezu Weitholz: Beinahe Alaska

In der Reihe BÜCHERGILDE unterwegs eben derselben Büchergilde figurieren ja nicht nur eigentliche Reiseberichte, sondern auf fiktionale Texte, die mit Reisen zu tun haben. So einen fiktionalen Text, einen Roman, haben wir hier denn auch vor uns: Eine namenlose Ich-Erzählerin wird von ihrem Verlag auf eine Kreuzfahrt geschickt, die von Grönland aus durch die Nord-West-Passage nach Alaska führen sollte. Die Frau wird zwischen 40 und 50 Jahren alt sein, von Beruf ist sie wohl so etwas wie eine Fotografin, Illustratorin, eventuell auch eine Journalistin. Ganz genau erfahren wir das nicht.

Der Roman schildert nun die Erlebnisse der nicht mehr ganz so jungen Frau auf ihrem Kreuzfahrtschiff. Äußerlich geschieht ja sehr wenig: Eis, Wasser, Nebel und Wolken, hin und wieder Sonne und ein Stück unfruchtbaren Landes dominieren das Leben an Bord. Und ja, natürlich, die überladenen Frühstücksbuffets, die eleganten und exquisiten Mahlzeiten im Allgemeinen. Die Passagiere sind auf sich selber zurückgeworfen – sehr zum Leidwesen der Ich-Erzählerin, die eigentlich gerne allein sein wollte. Sie schaue immer vorwärts, behauptet sie am Anfang von sich; in Tat und Wahrheit aber ist sie mit nicht fertig verdauten Erinnerungen beschäftigt. Wie jene Iniut, die in einem Vortrag an Bord davon erzählt, wie sie (im Traum?) die Geister der Verstorbenen sieht, sieht und hört die Erzählerin ihre toten Eltern, aber auch ihre verflossenen und verunglückten Lieben. Sie ist alleine, möchte es auch bleiben und leidet dennoch darunter.

Unter ihrer Einsamkeit leiden auch ihre Beziehungen zu den Mitreisenden. Sie möchte nichts mit ihnen zu tun haben und schildert sie denn auch entsprechend satirisch-verzerrt.

Das alles könnte – vielleicht, wenn es in der dritten und nicht in der ersten Person erzählt worden wäre – ein interessantes Psychogramm einer Frau in ihrer Midlife-Crisis sein. Aber dadurch, dass in der ersten Person erzählt wird, und dass die Erzählerin letzten Endes nur ihre eigene Meinung zu den Dingen kennt, wird die Hauptperson – bei aller Satire, bei allem Witz – zu einer larmoyanten Figur. Man möchte sie so wenig als Tischgenossin bei einer Kreuzfahrt haben wie sie die anderen Gäste. Sie weiß, wie die Dinge wirklich sind oder wie sie sein sollten, spricht das aber nicht aus, weil sie Angst hat vor Konfrontation, und lästert nur insgeheim. Nur wir Lesende kriegen das mit, und es macht wenig Freude.

Zugegeben: Es gibt ein paar gute Szenen – dort nämlich, wo die Landschaft beschrieben wird. Die offenbar auch malende Ich-Erzählerin sieht die Landschaften und sie kann sie beschreiben. Sie verfügt über ein präzises Vokabular für Farben, auch und vielleicht gerade, weil sie zugibt, nur noch Schwarz-Weiß zu zeichnen oder zu fotografieren.

Der Roman soll auch so etwas wie den Weg zur Heilung der Erzählerin sein. Tatsächlich scheint ihr eine Art Lust zu leben wieder zurück gekommen zu sein, vielleicht durch ihre exzessive Beschäftigung mit den Toten der verschiedenen Arktis-Expeditionen und damit, wie die Kulturen, die sie antrifft, mit der Trauer um die Toten umgehen, mit ihren Kindern. (Denn eine halbe Bemerkung der Erzählerin, die sich sonst als bekennende Kinderhasserin gibt, fast ganz am Schluss kann so interpretiert werden, dass sie nicht an der Trauer um ihre Eltern leidet, nicht beim Gedanken an all die verflossenen Liebschaften, sondern daran, den Tod ihres Kindes – vielleicht bei einer Abtreibung? – verdrängt zu haben. Da wäre dann Esoterisches sehr un-esoterisch erzählt.) Allerdings: Auf dem Weg zu dieser Heilung vergleicht sie mehr und mehr die Landschaften, die sie gerade sieht, mit Szenen aus Filmen. So vertauscht sie – im Glauben, nun geheilt (d.i. eine andere Person geworden) zu sein – wohl nur persönliche, sie quälende Erinnerungen gegen unpersönliche und deshalb nicht quälende.

Fazit: Der Roman ist dort gut, wo Landschaften beschrieben werden und dort, wo die Ich-Erzählerin eben genau nicht weiß, was sie tut bzw. erzählt. (Dort also, wo vielleicht nicht einmal die Autorin selber weiß, was sie schreibt.) Für meinen Geschmack aber ist in der Hauptfigur zu viel rechthaberische Larmoyanz.


Arezu Weitholz: Beinahe Alaska. Frankfurt, Wien, Zürich: Büchergilde, 2022. (Eine Lizenzausgabe der 2020 im Hamburger mareverlag erschienenen Erstausgabe)

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