Man lernt hier sehr wenig, es fehlt an Lehrkräften, und wir Knaben vom Institut Benjamenta werden es zu nichts bringen, das heißt, wir werden alle etwas sehr Kleines und Untergeordnetes im späteren Leben sein.
Für solche Sätze liebe ich Robert Walser. Im vorliegenden Fall ist des der erste Satz des Romans Jakob von Guten. Darin erzählt Jakob von Gunten von seiner Zeit im Institut Benjamenta, vom Moment seines Eintritts an, bis zur Auflösung des Instituts. Das Ganze hat die Form von Tagebuch-Einträgen, allerdings fehlt jedwedes Datum. Ähnlich wie die gestern vorgestellte Adelheid Duvanel verwendet Robert Walser eine Sprache, die mit ihrer äußerlichen Einfachheit über die komplexen Sachverhalte hinweg täuscht, die sie tatsächlich enthält. (Ob Duvanel von Walser gelernt hat, oder ob da zwei ähnliche Charaktere geschrieben haben, weiß ich nicht.) Ähnlich wie die Duvanels sind auch Walsers Sätze doppelbödig – ironisch, manchmal satirisch. Die Ironie und die Satire treffen manchmal den Erzähler selber, manchmal aber auch seine Umwelt – und nicht selten beide aufs Mal.
Man könnte Jakob von Gunten einen Entwicklungsroman nennen; immerhin schildert er die jungen Jahre seines Protagonisten. Allerdings ist er das Negativ eines Entwicklungsromans. Nicht, weil sich Jakob von Gunten zum Schlechten entwickelt. Er entwickelt sich in Tag und Wahrheit gar nicht. Er ist aber der einzige, der sich nicht entwickelt; um ihn herum verändert sich alles. Die zu Beginn des Romans als unnahbar und streng geschilderten Leiter und Inhaber der Schule, Herr Benjamenta und seine Schwester Fräulein Benjamenta (anders werden sie den ganzen Roman über nie genannt), werden zum Schluss nachgerade vertrauensselig und offenherzig gegenüber vor allem Jakob von Gunten. Fräulein Benjamenta tut dies angesichts ihres kommenden Todes, von dem sie weiß; Herr Benjamenta wahrscheinlich angesichts des drohenden Endes seiner Schule, das er kommen sieht. Tatsächlich verändert sich auch die Schule: Jakob von Gunten war der letzte neue Zögling, der aufgenommen wurde. Die Lehrer, von denen es zu Beginn geheißen hat, sie schlafen, oder sie sind tot, oder nur scheintot, oder sie sind versteinert, gleichviel jedenfalls hat man gar nichts von ihnen. – diese Lehrer werden einmal genauer vorgestellt, um dann nie mehr erwähnt zu werden. Und diese genaue Vorstellung entpuppt sich sofort als eine Art Traum oder Vision Jakob von Guntens, der nicht von den Lehrern des Instituts Benjamenta handelte, sondern von seinen Lehren am Gymnasium, das er vor langer Zeit erfolglos zu absolvieren versucht hat. (Wie Jakob von Guten überhaupt gern und viel phantasiert: darüber, reich zu sein; darüber, dass die inneren Gemächer von Herrn und Fräulein Benjamenta geradezu schlossähnliche Ausmaße innehaben (während es nur zwei kahle Zimmerchen sind); darüber, in der Gesellschaft seines erfolgreichen Bruders Johann, der in der gleichen Stadt als Künstler erfolgreich ist, ebenfalls zu reüssieren etc.)
Jakob von Gunten ist die Geschichte eines erfolglosen Menschen, der nicht einmal den Erfolg kennen lernen darf, sich im Leben weiter zu entwickeln. Er beobachtet, er versucht einzuordnen – nur um diese Einordnung bereits im nächsten Satz zu widerrufen und das Gegenteil zu erklären. Manchmal scheint er sich für jemand Besseres zu halten als die Menschen seiner Umgebung, aber auch da krebst er sofort zurück in das Gegenteil. Er versucht, die Großstadt ebenso zu analysieren wie seinen Bruder, einen erfolgreichen Künstler. Aber er hat als Maßstab für die Analyse der Großstadt nur jene andere Großstadt, aus der er zu stammen behauptet – eine Weltstadt von 28’000 Einwohnern … Und der Maßstab für die Analyse des Bruders ist letztlich er selber – er, der doch von sich weiß, dass er so ganz anders geartet ist als Johann.
Dem Protagonisten Jakob von Gunten ist nicht einmal ein völliges Scheitern gestattet. Der Roman endet damit, dass er und der (mittlerweile: ehemalige) Leiter des Instituts, Herr Benjamenta, die Koffer packen, um die Schule zu verlassen. Wohin, erfahren wir nicht, weiß offenbar Jakob von Gunten selber nicht, der einfach den Befehlen Benjamentas folgt, der bestimmt hat, dass er seinem Zögling, den er nun zu seinem Liebling erklärt hat, nicht eine Stellung suchen wird wie allen anderen, sondern dass er ihn bei sich und für sich behalten wird.
Muss man Robert Walser noch extra empfehlen?