Vorliegendes Buch erschien letztes Jahr (2021) aus Anlass des Umstands, dass sich damals Meinrad Inglins Todestag zum 50. Mal jährte. Wir finden hier eine kleine Auswahl aus seinen Erzählungen. Absicht dieser Auswahl war es, Inglin beim breiten Publikum wieder bekannt zu machen, weshalb Texte aus verschiedenen Schaffensperioden hier versammelt sind. Oder vielleicht sollte ich sagen: ‚Wieder bekannter zu machen‘, denn – so der Verlag auf der Rückseite des Schmutzblatts: Meinrad Inglin ist einer der bekanntesten Unbekannten. Seinen Namen kennen fast alle, seine Werke die wenigsten. Und auch Peter von Matt wird als Zeuge zitiert mit der Aussage: Er ist seit Jahren genau der, von dem Viele sagen, man hätte ihn ‹nicht auf dem Schirm› und ist allen deshalb so präsent. Die Frage ist doch vielmehr: ‹Was macht den Kerl so interessant, dass er nicht verschwindet?› Er hat einen festen Platz in der Schweizer Literatur des 20. Jahrhunderts. Er hat nie auf Effekt geschrieben. (Quelle: https://www.srf.ch/kultur/im-fokus/der-archivar/meinrad-inglin-der-grosse-vergessene-an-den-jeder-denkt) Ohne dem Verlag oder Peter von Matt nahe treten zu wollen: Nach meinen Erfahrungen gilt das oben Gesagte wohl vor allem für die Schweiz und auch da nur für diejenigen, die mehr oder weniger schon in einem Alter waren, in dem man sich bereits für Literatur interessiert, als Inglin noch lebte – also meine Generation und die noch Älteren. Denn Meinrad Inglin war ungefähr in der Mitte des 20. Jahrhunderts zumindest hierzulande noch ein sehr beliebter Autor. Das änderte erst, als Ende der 1960er eine neue, junge Generation von Autoren (und Kritikern) das Zepter definitiv übernahm – allen voran natürlich Frisch und Dürrenmatt. Inglin und sein konservatives Weltbild waren bei den tonangebenden Literaten und Kritikern nicht mehr ‚in‘.
Das Buch enthält zehn Erzählungen aus den Jahren 1943 bis 1963 – also in etwa der Zeit, als Inglin am bekanntesten war. Die frühen Erzählungen beschäftigen sich immer auf die eine oder andere Weise mit der Natur, bzw. dem Menschen und seiner Auseinandersetzung mit der Natur. Davon stellt die erste, Die entzauberte Insel, eine Art Entwicklungsroman dar: Eine Gruppe Jungs (oder junger Männer, sie sind etwa 15), die sich regelmäßig auf einer Insel treffen um dort zu fischen, wird eines Tages in ihrem Idyll gestört, weil einer der Jungs seine jüngere Cousine mitnimmt. Prompt verliebt sich die ganze Mannschaft in das Mädchen. Sie verlässt die Gruppe bald wieder, aber das Verhältnis der Jungs untereinander und zur Insel wird nicht mehr dasselbe sein. Ich will hier nicht alle Erzählungen vorstellen. Die beiden folgenden, Die Lawine und Drei Männer im Schneesturm spielen im Gebirge. Die Natur ist hier – anders als in der ersten Erzählung – keineswegs ein vom Menschen erst gestörtes Idyll, sondern sie ist hart und bedrohlich für den Menschen. Thema und Lokalisation erinnern an die grossen Romane von C. F. Ramuz; allerdings fehlt Inglin die nachgerade kubische Sprache, mit der der Welschschweizer die Natur darzustellen weiß. Der Lebhag könnte fast eine grüne Öko-Geschichte sein. Erzählt wird nämlich die Geschichte eines jungen Bauern, der entgegen den Wünschen seines alten Vaters einen Lebhag, der das Ein und Alles darstellt des alten Mannes, ausreißt und statt seiner einen Drahtzaun erstellt. (Ein ‚Lebhag‘ ist ein lebendiger Hag, eine Pflanzenhecke also.) Doch mit dem Lebhag verschwinden auch alle Tiere, die darin wohnten und die dafür sorgten, dass in den umliegenden Feldern das herrschte, was wir heute ein ‚ökologisches Gleichgewicht‘ nennen würden. Das gestörte ökologische Gleichgewicht führt aber in Inglins Erzählung auch zu einem gestörten moralischen Gleichgewicht: Der Vater wird alt und kränklich, der Sohn beginnt zu trinken und wird deswegen von seiner Frau verlassen, die Kinder verlassen ihrerseits den Hof und gehen arbeiten – die Familie zerfällt. Diese Geschichte ist eindeutig an den didaktisch-allegorischen Romanen und Erzählungen eines Jeremias Gotthelf orientiert – abermals ohne die sprachliche Form seines Vorbilds erreichen zu können (aber auch ohne Gotthelfs fortwährendes Rekurrieren auf Gott). Es folgen zwei weniger interessante Legenden oder Märchen. Interessanter ist dann wieder Meister Sebastian, eine Künsternovelle über einen Holzbildhauer, der sich in gewisser Weise dem Bösen verschreibt, der ihm dafür in seiner Kunst weiterhilft. Meister Sebastian gelingt so zwar ein großes Werk, aber er hat weder finanziell noch persönlich viel davon. Der Schluss zeigt ihn, wie er stirbt und wie seine ersten, noch nicht vom Bösen inspirierten Kunstwerke aus der Kirche treten
und [sie] kamen dem Meister entgegen, sie halfen ihm aus dem Schnee, nahmen ihn in ihre Mitte und führten ihn bergauf in die ewige Seligkeit.
Auch wenn sich der Künstler also mit dem Bösen einlässt, seine Kunst vermag ihn zu retten. Oder, wie jener andere seine Engel singen liess: Wer immer strebend sich bemüht, / Den können wir erlösen.
Vor allem aber weil Inglin über eine zwar oft sehr schöne, variantenreiche Sprache verfügt, wird er, fürchte ich, trotz aller Bemühungen des Verlags seine Bekanntheit nicht mehr erhöhen können. Denn genau das fehlt ihm zuletzt: ein eigenständiger Ton. Ich predige hier keinen Manierismus, aber wenn ich einen Text lese, ohne gleich zu spüren, von wem er stammen könnte, sinkt mein Interesse. Vielleicht ist es die Schuld der Auswahl, vielleicht gibt es diesen Ton bei Inglin ja wirklich. Ich habe hier noch dessen Schweizerspiegel stehen. Ich werde ihn sicher noch lesen – wenn auch nicht gleich morgen. Vielleicht finde ich da einen eigenen Ton.
Meinrad Inglin: Schneesturm im Hochsommer. Erzählungen. Herausgegeben von Ulrich Niederer. Nachwort von Usama Al Shahmani. Zürich: Limmat Verlag, 2021.