Joachim B. Schmidt: Tell

Friedrich Schiller hat mit Wilhelm Tell – wohl, ohne dies beabsichtigt zu haben – der Schweiz ein epochales Nationalepos geliefert (auch wenn es sich, strikt gesehen, bei seinem Werk natürlich um ein Drama handelt). Damit hat er dieser Nation einerseits durchaus gute Dienste geleistet. Ohne seine sprachgewaltige Formung der Geschichte um den Tell, wie er in verschiedenen Chroniken und alten Geschichtsbüchern zu finden war (wir denken heute hier natürlich vor allem an Ägidius Tschudi), hätte sich diese Version der Schweizer Gründungslegende kaum so tief im Bewusstsein der Schweizer und Schweizerinnen verankert, wie sie es dann tatsächlich tat. Der Einfluss von Schillers Wilhelm Tell auf die Geschichte der Schweiz ist zwar höchst indirekt gewesen, nichtsdestotrotz aber keineswegs vernachlässigbar. So stand diese Legende mit an der Wiege des modernen Bundesstaates, als im Jahr 1848 die alte Ordnung definitiv zerbrach. In der Krise vor dem Ersten Weltkrieg war es eben diese Legende gewesen, die mitgeholfen hatte, das Staatswesen Schweiz zu retten, obwohl die Sympathien der Romands und der Tessiner bei der einen, nämlich der französischen, Kriegspartei lagen und die der Deutschschweizer bei logischerweise bei der deutschen. Und nachdem die Nationalsozialisten in Deutschland an die Macht gekommen waren, im Vorfeld und während des Zweiten Weltkriegs, war es abermals der in Schillers Tell beschworene Mythos des einigen Volkes, das sich gegen den übermächtigen Rest der Welt erfolgreich zur Wehr setzt (Rösselmann: Wir wollen sein ein einzig [sic!] Volk von Brüdern, / In keiner Not uns trennen und Gefahr.), das nicht nur die Romands und die Tessiner bei der Stange (einer ohne Hut!) hielt, sondern diesmal vor allem auch die Deutschschweizer – ungeachtet der Tatsache, dass es (vor allem im Großbürgertum) durchaus Sympathisanten des Nationalsozialismus gab. Und doch: Genau an diesem Punkt hatte Schiller der Schweiz auch einen Bärendienst erwiesen. So, wie sich seine Variante des Gründungsmythos in den Köpfen der Schweizer derart festgesetzt hat, dass wohl noch heute hierzulande viele Menschen der Meinung sind, die Ereignisse hätten sich 1291 genau so abgespielt wie bei Schiller beschrieben, so hat sich auch der Mythos festgesetzt, die Schweiz sei in keiner Art und Weise aufs Ausland angewiesen und könne völlig kompromisslos den eigenen Weg gehen. Das nahm dann auch geschichtsverfälschende Züge an, indem immer mehr Schweizer schon kurze Zeit nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs überzeugt davon waren, dass es nur die heldenhafte Armee und die Drohung General Guisans waren, das Flachland zu verlassen und sich in den Bergen festzusetzen, die das Dritte Reich davon abhielten, zu versuchen, die Schweiz zu erobern. Dass man das auch mit vielen ökonomischen Kompromissen und Zugeständnissen erreicht hatte, war sehr rasch verdrängt. Bis heute glauben vor allem rechtsnationale Kreise in der Schweiz nach wie vor ernsthaft, das Land könnte sich völlig von der EU abnabeln und müsse keine Rücksicht zum Beispiel auf internationale Rechtssprechung nehmen.

50 Jahre nach Max Frisch und gar 200 Jahre nach Friedrich Schiller hat nun mit Joachim B. Schmidt ein weiterer Autor sich an der Saga von Wilhelm Tell versucht. Schmidt, Jahrgang 1981, ist Schweizer, lebt und arbeitet aber seit langem in Reykjavík. Er hat eine Einheimische geheiratet und sich auch in Island einbürgern lassen. Die Grundidee zur vorliegenden Bearbeitung des Tell-Stoffs soll er, gemäß eigenen Aussagen, denn auch von einem isländischen Schriftsteller-Kollegen übernommen haben, der ähnlich mit der Geschichte des isländischen Bürgerkriegs im 13. Jahrhundert umging.

Schmidts Bearbeitung des Stoffs unterscheidet sich grundlegend von der Frischs. Das ist primär wohl der Tatsache zuzuschreiben, dass Schmidt einer völlig anderen Autoren-Generation angehört. Wo die VertreterInnen der Nachkriegsgeneration noch, geschult an Bertolt Brecht, dem Horaz’schen „Prodesse et delectare“, „Nützen und unterhalten“, folgten, gilt für die neue Generation nur noch das „Delectare“, die Unterhaltung, als Sinn und Zweck des Schreibens. Nun ist an Unterhaltungsliteratur an sich nichts Schlechtes, im Gegenteil. Die Nachkriegsgeneration hatte ja nur zu oft vor allem belehren wollen und das Unterhalten gern vergessen. Dennoch, um es vorweg zu nehmen, bin ich nicht ganz glücklich mit dem Resultat von Schmidts Bearbeitung des Tell-Stoffs.

Schauen wir uns an, wie unser Autor genau vorgegangen ist:

Zunächst einmal hat er auf jede geschichtliche Einbettung des Lebens und der Taten Wilhelm Tells verzichtet. (Ebenso auch auf historische Plausibilität der Fakten und Charaktere – aber das hat schon Schiller, weshalb ihn Max Frisch in seinem Wilhelm Tell für die Schule ja auch so genussvoll und elegant auseinander genommen hat.) Der Aufstand der Innerschweizer gegen die Habsburger wird in Schmidts Roman mit keinem Wort erwähnt. Die Geschichte ist (im gastronomischen Sinn) reduziert worden auf den Kampf des guten Tell gegen die bösen Habsburger, klassischer Epen-Stoff also. Tells hauptsächlicher Gegner im Lager der Habsburger ist dabei nicht einmal Gessler. Der Landvogt weist einen recht schwächlichen Charakter auf; er ist der Hofmann, der Sehnsucht hat nach seiner Heimat Wien, nach Frau und Kind. (Er könnte so in einem der Sissi-Filme unsäglichen Angedenkens vorkommen – aber, wie gesagt: historische Plausibilität müssen wir hier nicht suchen, weil sie hier nicht intendiert ist.) Nein, Tells Antagonist ist Harras. Harras ist der Anführer der Soldateska, die dem Landvogt beigegeben ist. Er ist deren Vorbild in Sachen Brutalität im Umgang mit Einheimischen: Sein Leben besteht vorwiegend darin, zu saufen und seine Untergebenen zu schikanieren, Bauern zu töten bzw. zuerst noch zu foltern, deren Frauen und Töchter zu vergewaltigen. Ein rabenschwarzer Charakter – so übertrieben, dass er nicht nur im 13. Jahrhundert, sondern zu keiner Zeit realistisch sein kann. Harras ist denn auch der Endgegner im letzten Kampf Tells gegen die Habsburger – der Landvogt stirbt fast nebenbei und wirkt wie ein zufälliges Opfer von Tells Überfall. Wenn Harras eindimensional und ohne Schattierung gezeichnet wurde, so ist dies bei Tell nicht der Fall. Aber getreu der skandinavischen Tradition, wonach in einem Krimi auch und gerade der ermittelnde Kommissar einen oder mehrere psychische Probleme haben muss, um realistisch zu sein (ist er meiner Meinung ja erst recht nicht, aber das ist jetzt nicht die Frage), hat auch Schmidts Wilhelm Tell einen rechten Packen mitgekriegt, von dem das Publikum im Lauf des Romans so nach und nach erfährt. Da ist der Umstand, dass der Knabe Tell als Messdiener vom Dorfpriester mehrfach missbraucht wurde (was ihn offenbar der Liebe als Gefühl entfremdet hat). Viele Jahre später, bereits erwachsen, hat er seinen Bruder Peter überredet, mit ihm auf die Jagd ins Hochgebirge zu ziehen (der Landvogt und Harras sprächen da von „Wildern“). Sie kommen in eine Lawine. Wilhelm wird nach zwei Tagen im kalten Schnee noch ausgegraben und überlebt; seinen Bruder findet er aber nicht mehr und macht sich nun für den Rest seines Lebens Vorwürfe. (Solche Mimosen gibt es wohl auch erst seit dem 20. Jahrhundert.) Jedenfalls fühlt sich Wilhelm offenbar verpflichtet, die Witwe seines Bruders, Hedwig, zu heiraten und Peters Hof weiter zu führen. Dabei ist er kein Bauer, der es liebt, Hof und Vieh zu umsorgen; lieber würde er unabhängig in den Bergen umher schweifen und hin und wieder mal eine Gämse mit der Armbrust schießen. Auch sein Verhältnis zu Walter (der in diesem Roman der Sohn noch von Peter ist) wird sich erst im Verlauf des Romans klären und bessern. Jede Menge psychischer Probleme also für den armen Wilhelm Tell … Zu viele eigentlich, um die Figur und damit den Roman noch genießbar zu lassen (um beim kulinarischen Vergleich zu bleiben).

Im Grunde genommen leiden Schmidt und sein Roman am – wie ich es nennen möchte – Epigonen-Syndrom. Epigonale AutorInnen finden in ihren Vortretern geniale literarische Motive und Kniffs, die sie nur zu gern nachahmen. Leider kriegen sie den Kniff nicht so gut hin wie das Original. Oder sie glauben, es sogar besser zu können (oder zumindest signifikant anders), und zeigen erst recht ihre literarischen Blößen. Karl Leberecht Immermann mit seinem Roman Die Epigonen liefert das klassische Beispiel dafür, Joachim B. Schmidt mit Tell jetzt ein zeitgenössisches. Wie bei jedem Epigonen ist es auch bei Schmidt so, dass natürlich nicht alles schlecht ist, was er liefert, auch wenn die Vorbilder, von denen er es hat, halt einen Tick besser sind. Manchmal wird er wohl auch nur der Nachtreter eines Nachtreters sein – Epigonalität pflanzt sich über Schriftsteller-Generationen fort. Dennoch gebe ich zu: Es gibt in Tell zwei Umstände, die machten, dass ich den Roman doch zu Ende las – zwei Dinge, die machen, dass ich gerade noch davor Abstand nehme, ihn als ‚trivial‘ (im pejorativen Sinn) oder ‚Kitsch‘ zu klassifizieren.

Da ist – in minderem Maß allerdings – die Erzählweise. Der Roman besteht formal aus 10 Großkapiteln (warum auch immer – der Sinn dieser Großkapitel hat sich mir nicht erschlossen), die wiederum in verschiedene kürzere Kapitel unterteilt sind. Diese Kurzkapitel werden von einer jedes Mal anderen Person in der Ich-Form erzählt. Insgesamt sind es etwa 20 Personen, die so zur Erzählung beitragen. Auch Tell selber kommt zu Wort – allerdings erst gegen Ende des Romans. Damit das Publikum keine Probleme hat damit, wer da gerade spricht (oder eigentlich eher: denkt), sind den Kurzkapiteln die Namen der Person vorangestellt. Leider kann Schmidt die Personen nicht sprachlich von einander unterscheiden – alle klingen in etwa gleich. Und auch wenn wir im Grunde genommen deren Gedanken folgen: Sprache und Satzbau ihrer Erzählungen sind logisch und kohärent – keine Spur von innerem Monolog oder Bewusstseinsstrom, wie sie zum Beispiel von Virginia Woolfe in The Waves oder von William Faulkner in As I Lay Dying so perfekt verwendet worden sind.

Was den Roman aber tatsächlich rettet, sind die Teile, in denen wir mehr über seine Familie erfahren, die (eigentlich meist retardierenden) Teile, in denen seine Frau Hedwig erzählt, dann ihre Mutter, oder Tells Mutter (die beide auf dem Tell-Hof leben). Sogar Walters Kapitel (von seinem ersten vielleicht abgesehen) sind gelungen. Für solche ruhigen und stillen (aber keineswegs problemlosen!) Partien liebe ich AutorInnen. Da scheinen auch am wenigsten irgendwelche Vorbilder durch.

Das Feuilleton hat sich – nicht nur in der Schweiz! – zu diesem Roman in Lob überschlagen. Ich kann das nicht so richtig nachvollziehen. Ich würde von Schmidts Tell nicht abraten, ihn allerdings auch nicht empfehlen. Wer schwedische Krimis des 20. Jahrhunderts mag, wird wohl auch diesen Roman schätzen.


Joachim B. Schmidt: Tell. Zürich: Diogenes Verlag, 2022.

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