Am 12. März 2022 hätte Jack Kerouac seinen 100. Geburtstag feiern können. Aus diesem Anlass wurde bei Rowohlt sein Roman The Dharma Bums in einer neuen Übersetzung von Thomas Überhoff wieder aufgelegt. Die erste Ausgabe war 1963 unter dem Titel Gammler, Zen und hohe Berge erschienen. Klang der Titel der ersten Übersetzung – wie jemand im Internet feststellte – ein wenig nach Heinrich Harrer, und auf jeden Fall ungeheuer prätentiös, so hat auch der zweite so seine Probleme in sich. Der US-amerikanische Slang-Ausdruck „bum“ bedeutet nämlich keinesfalls „Jäger“. „Gammler“ (oder, von der Sprachebene her vielleicht noch besser: „Penner“) wäre da korrekter. Die Protagonisten von Kerouac sind nämlich keineswegs „Jäger“ – dazu wäre ihrerseits viel mehr zielgerichtetes Handeln von Nöten. (Sie treffen einmal, auf einer Bergwanderung, auf Jäger, und unterscheiden da zwischen den Sonntagsjägern, die sie verachten, und den ‚echten‘ Jägern, für die sie Hochachtung empfinden, weil sie ihrem Ideal eines Lebens von und mit der Natur recht nahe kommen.) Wobei der US-amerikanische Ausdruck „bum“, anders als „Penner“ und vielleicht auch noch in höherem Mass als „Gammler“, zumindest früher immer auch einen Hintergrund von Bewegung in sich hatte. „Bums“ sind eigentlich Landstreicher – immer auf der Walz. Diese Bedeutungsnuance soll sich, habe ich gehört, geändert haben: „Bums“ sind heute Sesshafte.
Ähnlich wie in seinem berühmteren Gegenstück On the Road (Unterwegs) wird also auch bei diesem Roman der Aspekt eines ständigen Unterwegs-Seins schon im Titel angesprochen. Auch die Dharma Bums, insbesondere der Ich-Erzähler RaySmith und sein Idol Japhy Ryder, sitzen höchstens zeitweise still. Gleich zu Beginn erzählt uns Ray Smith, wie er im November 1955 in Los Angeles auf einen Güterzug springt, der ihn nach Norden, nach Santa Barbara und schlussendlich nach San Francisco, bringen soll. Denn unsere Helden reisen zwar, aber nur selten in einem eigenen Auto, selten zu Fuß (höchstens innerhalb der Stadt oder dann auf einer Bergtour), meist aber auf Kosten anderer – als blinde Passagiere auf Güterzügen oder als Anhalter. (Ray reist als Anhalter quer durch die USA an die Ostküste, um mit seiner Mutter Weihnachten zu feiern.)
Diese Reisen sind immer interessant, weil es Kerouac gelingt, praktisch jeden Menschen, den Ray unterwegs kennen lernt, in ein paar Pinselstrichen lebendig hinzustellen – ebenso die Gruppe jener Poeten und Musiker, die gerade daran waren, sich als „Beat Generation“ einen Namen zu machen. Sie sind aber auch interessant, wenn Ray und seine Freunde sich auf einer Bergwanderung befinden. Denn hier wechselt das Erlebnis der Natur mit einer manchmal sehr komischen Schilderung der Reisegefährten und Freunde. Einzig die Frauen gelingen Kerouac nicht so ganz. Sie sind mehr Sexualobjekte denn gleichberechtigte Partnerinnen in den spirituellen Exkursionen der Protagonisten.
Denn spirituell sind unsere Helden auch. Sie fühlen sich dem Buddhismus verpflichtet, insbesondere der Zen-Variante. Es vergeht kaum ein Tag, kaum eine Seite, wo sich Ray nicht Gedanken über den Buddha-Status seiner Freunde oder auch von sich selber macht. (Bei genauerem Hinschauen bzw. -lesen wird man allerdings feststellen, dass der Buddhismus unserer Freunde stark mit westlichen Vorstellungen vermischt ist: Will sagen: Ray Smith – oder Jack Kerouac? – katholisiert mächtig.)
Allerdings werden ihre spirituellen Phasen immer wieder unterbrochen von größeren Saufgelagen. Beim Essen sind sie bescheiden; die meisten sind sogar Vegetarier. Aber wenn sie eine Flasche Wein (oder noch besser mehrere) in die Finger bekommen, kennen sie kein Halten mehr und sind auch in der Lage, tagelang lautstark Party zu machen. Ansonsten erfahren wir, abgesehen vom Rauchen von Zigaretten oder der Pfeife, von keinen Drogen.
Der Roman ist hochgradig autobiografisch. Praktisch für alle namentlich genannten Personen lassen sich Vorbilder in der Realität finden. Ray Smith ist natürlich Jack Kerouac und sein Idol (und zweite wichtige Person des Romans) Japhy Ryder hieß in Wirklichkeit Gary Snyder. Snyder lebt übrigens immer noch – offenbar haben ihm die Saufgelage weniger anhaben können als Kerouac, der wahrscheinlich an den Folgen übermäßigen Alkoholkonsums, der seinen Magen ruinierte, relativ jung gestorben ist.
Eine Person aber, die nur im Hintergrund präsent ist (dort dafür sehr stark), ist der Autor Jack London. Er wird im Roman zwar nur einmal erwähnt, ist aber schon gleich zu Beginn, als Ray auf eine Zug aufspringt, präsent mit seinem autobiografischen Buch Abenteurer des Schienenstrangs (The Road), in dem London von seiner Zeit als er die USA als Hobo bereiste. Ein „Hobo“ ist eigentlich ein Wanderarbeiter – von meiner Lektüre her erinnere ich mich allerdings nicht an allzu viel Arbeit, die London geleistet hätte. Wir sehen schon am Buchtitel: Auch Jack London lebte eine ganze Zeitlang (On) the Road wie sein Vornamensvetter Kerouac.
Summa summarum: Als Dokument einer Zeit des Umbruchs ist dieses Buch sicher interessant genug. Wer ‚Action‘ sucht in seiner Lektüre wird aber enttäuscht werden. Wir erleben den Alltag von einem Haufen junger, sorgloser Leute im Kalifornien der 1950er, als der esoterische Rausch der 20 Jahre später einsetzen sollte, sich gerade erst entwickelte.