Johann Heinrich Jung (gen. Stilling): Lebensgeschichte

Der Topos der ‘Tellerwäscherkarriere’ ist, denke ich, in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in den USA entstanden, um jene Menschen (meist ja Männer) zu charakterisieren, die im Lauf ihres Lebens von ganz unten bis ganz nach oben in der sozialen Hierarchie geklettert sind. Mutatis mutandis gab es solche Karrieren natürlich schon viel früher und auch andernorts. Der Lebenslauf des Johann Heinrich Jung ist ein Paradebeispiel für so eine ‘Tellerwäscherkarriere’ avant le mot. „Mutatis mutandis“ habe ich gerade gesagt, was bei Jung bedeutet, dass wir in seinem ganz persönlichen Fall zwei wichtige Unterschiede zu einer klassischen Tellerwäscherkarriere machen müssen.

Da ist einmal der Unterschied, dass der Westfale bei seiner Karriere in Deutschland nicht von ganz unten kam. Sein Großvater war Kohlenbrenner und hatte in dieser Eigenschaft ein zwar kleines, aber regelmäßiges Einkommen, das ihm erlaubt hatte, für die Familie ein Haus zu kaufen und Einsitz zu nehmen im lokalen Kirchgemeinderat. Er war – wenn auch nur im eigenen Dorf – ein geachteter Mann mit einer glänzenden Reputation. Natürlich musste die ganze Familie mithelfen, das Einkommen zu halten oder gar aufzubessern. Nicht nur Jungs Großmutter, auch alle seine Tanten arbeiteten bis zu ihrer Heirat im großväterlichen Haus mit – da war nicht nur der Haushalt, sondern auch ein kleiner landwirtschaftlicher Betrieb, der dazu gehörte. Die meisten erzielten Ernten werden der Selbstversorgung gedient haben, ein paar vielleicht auch dem Tauschhandel oder als Ersatz für andere Zahlungsmittel. Davon, dass irgendwelche Produkte auf den Markt gebracht wurden, lesen wir auf jeden Fall nichts. Am andern Ende des Jung’schen Lebens finden wir ihn auch nicht als reichen und unabhängigen Kaufmann wieder, sondern ‘nur’ als persönlichen Berater mit dem Titel eines Großherzoglich Badischen Geheimen Hofrats mit einer Pension des Kurfürsten. Er hatte aber somit sicher keine finanziellen Probleme mehr, wie sie ihn den Großteil seines Lebens geplagt hatten.

Der andere große Unterschied zur klassischen Tellerwäscherkarriere liegt im Umstand, dass Jung sein Leben (und damit seine Karriere) sozusagen in Echtzeit dem Publikum mitteilte. War der erste Band seiner in Romanform gehaltenen Autobiografie (Heinrich Stillings Jugend) 1777 noch ohne sein Vorwissen von Goethe zum Druck befördert worden, so folgten 1778 bereits von ihm selber zum Druck gebracht: Heinrich Stillings Jünglingsjahre und Heinrich Stillings Wanderschaft; letzteres führte dann praktisch bis zur Gegenwart. Später folgten noch Heinrich Stillings häusliches Leben (1789) und Heinrich Stillings Lehr-Jahre (1804 – gemeint waren Jung-Stillings Jahre als Dozent und Professor an verschiedenen Hochschulen). Heinrich Stillings Alter konnte Jung nicht mehr beenden; das Buch mit dem Titel Heinrich Stillings Tod stammt von einem Enkel.

Unter der Lektüre sind mir von einem eher literarischen Standpunkt aus vor allem zwei Dinge aufgefallen:

Zum einen ist da der Umstand, dass Jung zwar alles in der Er-Form erzählt, seine eigenen Erlebnisse und Gedanken also alle seinem Protagonisten Henrich [so im Text!] Stilling zuschreibt, sich aber völlig auf Stilling einlässt. Will sagen: Der Erzähler weiß bzw. erzählt nicht mehr, als der Protagonist gerade weiß, fühlt oder denkt. Wenn der ganz junge Stilling sein Lebensglück darin sieht, Dorfschulmeister zu werden, so wird das genau so überliefert. Wenn er ein Buch später in der unterdessen erreichten Existenz eines Dorfschulmeisters sein ganzes Unglück sieht, so referiert der Erzähler dies, ohne mit einem Wort darauf einzugehen, dass hier der spätere Stilling dem früheren diametral widerspricht. (Etwas, das wir – nebenbei gesagt – in diesem Text immer wieder finden. Eine frühere Version des Protagonisten hält, was ihm begegnet, für eine glückliche Fügung Gottes (er hält fast alles dafür) – zum Beispiel seine erste Frau. Später kommt er zur Einsicht, dass er hier offenbar Gott falsch verstanden habe – ohne daraus für sich oder seinen Glauben weitere Konsequenzen zu ziehen.) Erst 1804, bei einem Rückblick auf sein früheres Leben, wird Jung anfangen zu räsonnieren.

Zum anderen lesen wir 1804 auch plötzlich, wie hart ihn sein Vater wirklich gehalten hat – aus Schwachheit, weil er in seinem rigiden pietistischen System gefangen war. Wir lesen auf einmal, wie seine Stiefmutter ihn gnadenlos zur harten Feldarbeit angehalten hatte, eine Arbeit, die so gar nichts für die zarten Hände des jungen Mannes war. Kein Wort über die Härte und den Charakter der beiden in seinen früheren Büchern – im Gegenteil: Er spricht davon, wie gut er mit seiner Stiefmutter auskomme. Da hat 1804 ganz offensichtlich Jungs Beschäftigung mit Lavaters Physiognomik und Charakterologie durchgeschlagen. Nicht zum Besten seines eigenen Charakters, leider, denn wir haben nun den Eindruck, dass der frühe Jung seine Erlebnisse schön geredet hat, so lange Vater und Stiefmutter noch lebten. Erst, wie sie schon tot sind und sich nicht mehr wehren können, schlägt er auf sie ein. So etwas hinterlässt einen üblen Nachgeschmack.

Am Interessantesten aber sind meiner Meinung nach die im ersten Buch sich findenden Schilderungen des Grundschulwesens jener Zeit. Dorfschulmeister konnte zu jener Zeit praktisch jeder werden, der lesen und schreiben konnte. Es gab kaum Kontrollen, und wenn, dann von Leuten, die selber im sturen Auswendiglernen der Zeit aufgewachsen waren und genau das wieder von der nächsten Generation forderten. Der Dorfschulmeister wurde von den Dorfältesten eingestellt und war völlig in deren Hand. Ständiger Wechsel der Lehrer auf Grund irgendwelcher Intrigen war das Resultat. Dass Jung, der seine erste Stelle als Dorfschulmeister mit 14 Jahren antrat, diesen Intrigen nicht gewachsen war und Stelle um Stelle wechseln musste, bis ihm die ganze Schulmeisterei verleidet war, kann da nicht erstaunen. Eher, dass der naive Jüngling sich so etwas überhaupt als ‘Traumjob’ vorstellen konnte. Ob er wirklich jene an Pestalozzi und Basedow erinnernden Neuerungen im Unterricht einführen wollte, von denen er erzählt, können wir nicht nachprüfen. Jedenfalls scheiterte er damit glorios.

Ich wage zu behaupten, dass man vor allem das erste Buch dieser Reihe, Heinrich Stillings Jugend auf jeden Fall lesen sollte. Wir finden darin nicht nur die eigentliche Autobiografie, sondern auch eingestreut, Volkslieder und Märchen, die gesungen bzw. erzählt werden. (Und die, nebenbei, prompt später von den Brüdern Grimm in ihre eigenen Sammlungen mit Volksliedern bzw. Volksmärchen aufgenommen wurden!) In den späteren Büchern hat Jung zusehends auf diese, dem Geschmack der Zeit geschuldeten (wie er 1804 abschätzig sagen wird) Einsprengsel verzichtet; selbst kleine Allegorien verschwinden im Lauf der Geschichte, bis er dann in Heinrich Stillings Lehr-Jahre (1804) auch auf die bisher durchgehaltene Anonymisierung der Ortschaften und Personen verzichtet. Bereits vorher hat er – bei der Schilderung der Begegnung mit Goethe und Lerse in Straßburg (später traf er dort auch Herder und noch später Lenz) die Klarnamen verwendet. Natürlich war dem Publikum recht schnell bekannt, wer Stilling in Wirklichkeit war. Dennoch finde ich es schade dass auf die Anonymisierung und vor allem, dass auf die Einschübe verzichtet wurde, denn gerade die Mischung machte aus einer trockenen Autobiografie einen lesenswerten Roman.

Gelesen habe ich den Text in einer längst vergriffenen Ausgabe einer längst verschollenen Reihe – nämlich der Reihe Texte deutscher Literatur 1500-1800, die ihrerseits zur (ebenfalls längst verschollenen!) Reihe Rowohlts Klassiker der Literatur und der Wissenschaft gehörte. Das Ganze erschien 1969 bei Rowohlt (gedruck auf dem dort noch lange üblichen holzhaltigen Papier der Nachkriegszeit mit der schlechten Klebebindung, bei der der Leim im Lauf der Jahre hart wird, sich somit der Buchrücken ablöst und das Buch zu einer Lose-Blätter-Sammlung wird). Es umfasst Jugend, Jünglingsjahre und Wanderschaft im Ganzen sowie den Rückblick auf Stillings bisheriges Leben aus den Lehr-Jahren und trägt den Titel

Jung-Stilling: Lebensgeschichte

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