Marcel Proust: À la recherche du temps perdu II. À l’ombre des jeunes filles en fleurs (1) [Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Im Schatten junger Mädchenblüte]

Schrift "A LA RECHERCHE DU TEMPS PERDU" rot auf beige. Ausschnitt aus Buchcover.

Mit dem zweiten Buch seines Großromans Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, Im Schatten junger Mädchenblüte, knüpft Marcel Proust nahtlos dort an, wo er mit dem ersten (In Swanns Welt) aufgehört hat. Dies gilt in zweierlei Hinsicht: in stilistisch-formaler und in der inhaltlichen Fortführung der Erzählung. Nämlich:

Inhaltlich:

Wir treffen zu Beginn den immer noch sehr jungen Ich-Erzähler beim Spielen mit Gilberte Swann, und immer noch ist er in sie verliebt. Wie es genau kommt, dass die im ersten Buch noch Unerreichbare nun zu seiner Spielkameradin geworden ist, verschweigt uns der Autor zwar. Dafür erfahren wir zumindest andeutungsweise, warum Swann – der in dem seiner Liebe zu Odette gewidmeten Roman im Roman Un amour de Swann die Angebetete ja bereits verloren hatte und sie auch nicht mehr liebte – warum er also nun doch mit ihr verheiratet ist. Offenbar nämlich gab es da nun ein Kind (Gilberte natürlich), das Swann durch seine Ehe legitimiert hat. Die Geschichte nun des Ich-Erzählers und Gilbertes spiegelt die Geschichte ihres Vaters mit ihrer Mutter. Analog zu Swann steigt der Ich-Erzähler auf, hier vom Spielkameraden zu Gilbertes Gast bei ihrem goûter (oder wie ihre anglomane Mutter sagt: Lunch), den sie einmal wöchentlich gibt – am gleichen Tag übrigens, an dem am Abend ihre Mutter dann Gäste empfängt. Wir finden später den Ich-Erzähler ebenfalls als einen der Abendgäste von Odette und noch später kann er im Hause Swann kommen und gehen, wie er möchte. Aber, wie bei Charles Swann, macht sich da die Geliebte bereits wieder rar und ist meist außer Haus bei Freundinnen, wenn unser Erzähler bei ihr zu Hause erscheint.

Dafür trifft er dort auf den von ihm verehrten Schriftsteller Bergotte – was dann wiederum seinen Vater verwundert, hätte er den Autor doch auf höher gestellten Abendgesellschaften vermutet. (Hier deutet Proust erstmals an, was im weiteren Verlauf der Suche nach der verlorenen Zeit immer wichtiger werden wird: der allmähliche Umbruch der Gesellschaft, der zum Schluss macht, dass Personen, die in der Jugend des Ich-Erzählers noch ganz oben in der ständischen Hierarchie standen, am Ende des Romans bereits vergessen sind, andere aber, die man als Parvenus beschimpft hatte, plötzlich gesucht werden.) Auch wird ihm auf der Straße von den Swanns (die unter ihrem Klarnamen auftretende) Mathilde Bonaparte vorgestellt.

Formal-stilistisch:

Von der Form her springt Proust allerdings ein wenig weiter zurück und greift die Erzählweise wieder auf, die er verwendet hat, bevor er von Swanns Liebe erzählte. Das ist eine, zwar mit Rück- und Vorblicken saturierte, aber dennoch einigermaßen chronologische Erzählung des Lebens dieses jungen Mannes aus der bürgerlichen Oberschicht, der in der Ich-Form scheinbar faktentreu berichtet. Einzig – wie gehabt – unterbrechen Ausflüge in die Kunst- und Literaturtheorie und eine Darstellung von Prousts (?) Rezeptionsästhetik die eigentliche Erzählung. Aber das träumerische Interludium in der Ich-Form, das Proust an den Kurzroman von Swanns Liebe angehängt hat, bleibt vorläufig einzigartig.

M. de Norpois:

Gleich zu Beginn aber, schon im ersten Satz von Im Schatten junger Mädchenblüte wird eine neue Figur eingeführt, M. de Norpois. Ehemaliger Berufsdiplomat, der es offenbar auf der Karriereleiter hoch hinaus geschafft hat, arbeitet er nun noch in ein paar Kommissionen mit – darunter in mindestens einer, in der auch der Vater des Ich-Erzählers mitwirkt. Als nun ein junger König aus Osteuropa, Theodosius II., Frankreich mit einem Staatsbesuch beehrt und unter anderem auch in Theater geführt wird, sieht der dort zufällig M. de Norpois, winkt ihn zu sich und wechselt ein paar Worte mit ihm. Der Vater brennt vor Neugierde zu wissen, worüber die beiden gesprochen haben, und so wird der Plan, den Diplomaten zu einem Essen einzuladen, ausgeführt. Der Vater, und mit ihm die Mutter, und deshalb auch der Sohn, verehren M. de Norpois schon fast wie eine Gottheit, jedes seiner Worte hat für sie das Gewicht eines antiken Orakels.

Neben seiner Neugierde gibt es für den Vater noch einen zweiten Grund, den Diplomaten einzuladen. Eigentlich wäre der Sohn nämlich nun alt genug, um einen Beruf zu ergreifen bzw. zu erlernen, und der Vater sähe ihn ganz gerne im diplomatischen Korps. Der Sohn seinerseits möchte lieber Schriftsteller werden. So beschließt man, das Orakel de Norpois um Rat zu fragen. Der Schuss geht allerdings für beide, Vater wie Sohn, nach hinten los. Es stellt sich heraus, dass M. de Norpois große Verehrung empfindet für Schriftsteller und Literatur – größere als für die Diplomatie. Der Vater ändert deshalb sofort seine Meinung in Bezug auf den Berufswunsch des Sohnes und ist nun bereit, ihn zu unterstützen. Es zeigt sich aber, dass der Sohn – gefragt nach dem besten Stück seiner bisherigen literarischen Produktion – praktisch nichts vorzuweisen hat. Er verspürt zwar – vor allem beim Betrachten einer Landschaft – immer wieder Momente, in denen er sich hochgemut und voller Ideen wiederfindet, aber er ist schlussendlich wieder allzu zerstreut, um diese Momente, diese Eindrücke auch wiedergeben zu können. Ein kleines Gedicht, dass er dem Diplomaten dann doch noch präsentiert, wird von diesem rasch durchgelesen und dem Dichter wortlos zurückgegeben – woraus der Ich-Erzähler schließt, dass es mit seiner Kunst doch nicht so weit her ist, und er seinerseits an seinem Berufswunsch verzweifelt (denn nun will natürlich der Papa, dass er produziert!).

Dabei, vermute ich, war der Grund dafür, dass M. de Norpois das Gedicht wortlos zurückgab, ein ganz anderer. Wenn man nämlich Proust ganz genau zuhört, merkt man, dass dieser ehemalige Spitzendiplomat als dummer Hohlschwätzer hingestellt wird. Er hat zu allem eine Meinung (und kann die auch wunderhübsch und wohlformuliert aus dem Stegreif hinlegen), aber nur, sofern bereits eine andere Meinung existiert, der er entweder zustimmen oder – noch besser – der er widersprechen kann. Zum Gedicht des Ich-Erzählers aber gab es ja noch keine Meinung, weshalb auch M. de Norpois keine haben konnte.

Am besten vielleicht lässt sich M. de Norpois’ Hohlheit an seiner Meinung über den zu Besuch weilenden König Theodosius II. demonstrieren. Nämlich:

Theodosius II.

Handlungszeit ist, wie Proust selber angibt, die Zeit der Dreyfus-Affäre, die aber ansonsten nur als Hintergrundgeräusch eine Rolle spielt. In dieser Zeit nun kommt aus einem Land aus Osteuropa ein gewisser König Theodosius II. auf Staatsbesuch nach Frankreich. Zu jener Zeit stattete tatsächlich Zar Nikolaus II. Frankreich einen Staatsbesuch ab, weshalb, wer den Roman Auf der Suche nach der verlorenen Zeit als Schlüsselroman lesen will, sofort auf diesen tippt als Vorbild. Allerdings gibt es beim russischen Zaren Unstimmigkeiten zu dem, was über Theodosius erzählt wird. So zum Beispiel, dass der König noch sehr jung sei, dass er ursprünglich aus hohem bayrischem Adel stamme, aber dennoch von der europäischen Staatengemeinschaft auf diesen östlichen Thron gehievt worden sei. Auf der Suche nach einem halbwegs passenden Kandidaten, der zumindest mit in Frage kommen würde, ist man dann auf Ferdinand I. von Bulgarien gestoßen, einen Zeitgenossen Nikolaus’ II., einen Wettiner, der seinerzeit tatsächlich von außen, nicht in einer regulären Thronfolge, geholt worden war. Tatsächlich musste Frankreich später (nämlich im Ersten Weltkrieg) dann mit ihm, dem im alten Jahrhundert noch so Gefeierten, Krieg führen, was zu gewissen Aussagen des Ich-Erzählers in Roman stimmt. Es gibt meiner Meinung nach aber noch einen weiteren Kandidaten als Vorbild. (Proust hat immer Wert darauf gelegt, dass seine Figuren nicht einfach einem einzigen existierenden Vorbild nachgemacht sind, sonder immer eine Mischung aus verschiedenen lebenden Gestalten und eigener Phantasie.) Dieser König nämlich ist Otto von Griechenland. Als Wittelsbacher stammt er aus einem der ältesten deutschen Hochadelsgeschlechter, was M. de Norpois Aussage, dass Theodosius II. lange überlegt habe, ob er die Krone seines Landes annehmen solle, weil es eigentlich unter seiner Würde und Abstammung liege, unterstützen würde. Auch wurde er wirklich jung, nämlich bereits mit 17 Jahren, auf den griechischen Thron gestellt. Dass er zum Zeitpunkt der Romanhandlung schon lange tot war, kann einen Romancier wie Proust (der ja keinen historischen Roman verfassen wollte!) sicher nicht daran hindern, dennoch Züge aus seinem Leben zu seiner Figur Théodose hinzu gefügt zu haben. Wenn wir aber etwas von Otto von Griechenland in Theodosius drin haben, wird M. de Norpois’ Lob, der junge Mann sei als Staatsmann hochtalentiert, als Hohlschwätzerei und Lobhudelei entlarvt. Denn in seiner Regierung zeigte sich Otto alles andere als talentiert und er konnte sich nur mit finanzieller und militärischer Unterstützung durch seine bayrische Heimat 30 Jahre halten. Dass er das Land geliebt hatte, auch wenn er die Leute vernachlässigt hatte, half ihm aber schliesslich auch nichts mehr – er musste ins Exil, bzw. zurück in seine alte Heimat gehen. Alles Dinge, die man 1919, zum Zeitpunkt des Erscheinens von Im Schatten junger Mädchenblüte, natürlich sehr wohl wusste.

Bei Theodosius II. also zeigt sich M. de Norpois als Hohlschwätzer und Drechsler schöner, aber inhaltsleerer Phrasen, weshalb wohl auch sein Urteil (oder besser Nicht-Urteil) über das Gedicht des Ich-Erzählers nicht ernst zu nehmen ist. Im Moment der Erzählung aber wissen das weder dieser noch seine Eltern – und das zeigt Prousts Genialität im Aufbau seiner Szenen.

Ich unterbreche Im Schatten junger Mädchenblüte jetzt nach rund einem Drittel aus schierer Masse und werde später weiter berichten. Der Ich-Erzähler verliert gerade, wie sein Doppelgänger Swann vor Jahren, seine Liebe zu Gilberte, und wir sind gespannt, wie es weitergeht.

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