Gleich im ersten Abschnitt des ersten Kapitels dieses Romans treffen wir auf Sherlock Holmes, wie er ein Fläschchen mit einer durchsichtigen Substanz und eine Spritze hervorsucht – nicht, weil er irgendwelche wissenschaftlichen oder kriminalistischen Untersuchungen unternehmen will: Im Fläschchen befindet sich, wie er dem ebenfalls anwesenden Watson auf dessen Nachfrage mitteilt, ein 7%-Lösung Kokain. Er sucht in seinem schon völlig zerstochenen Unterarm nach einer freien Stelle und spritzt sich diese Lösung. Er brauche, sagt er, diese Stimulanz, um sein Hirn vor dem Durchdrehen zu bewahren, in das es zu geraten droht, wenn dem Detektiv gerade kein interessanter Fall vorliegt. Und das ist hier der Fall. Alle Vorhaltungen Watsons nützen nichts; erst als eine junge Frau, Miss Mary Morstan, erscheint und tatsächlich einen interessanten Fall mitbringt, wird Holmes für eine Weile auf seine Drogen verzichten. Nachdem der Fall dann gelöst ist, wird Holmes verkünden, dass er nun, wo die Anspannung von ihm abfalle, sieben Tage wie ein nasser Waschlappen herumliegen werde – nur, um ein paar Minuten später wieder zum ominösen Fläschchen und der Spritze zu greifen.
Ich schreibe das hier nicht, um Holmes oder Doyle irgendwie anzuprangern. Im 19. Jahrhundert war der Umgang mit dem, was wir heute „harte Drogen“ nennen noch ein völlig anderer; man war sich der meisten Risiken, wie wir heute kennen, noch gar nicht bewusst. Ich schreibe dies hier aus einem ganz anderen Grund, nämlich, um aufzuzeigen, in welchem ‚rohen‘ Zustand Holmes und Watson in diesem Roman noch sind. Das Zeichen der Vier erschien 1890 als zweiter Roman Doyles mit den beiden, und als zweites Buch überhaupt mit ihnen. Doyle suchte eindeutig noch nach der endgültigen Form, die sie annehmen sollten. So wird nicht nur Holmes’ Drogenmissbrauch ausführlich geschildert. Auch auf Watsons Kriegsverletzung wird ausführlich und immer wieder angespielt. (Wir müssen allerdings bei diesem Roman auf etwas schliessen, das im Vorgänger – Eine Studie in Scharlachrot von 1887 – explizit gemacht wird, nämlich, dass Watson offenbar als Invalider ausgemustert wurde, weshalb er nicht nur bei Holmes lebt, sondern ihm auch Tag und Nacht bei seinen Nachforschungen zur Seite steht.) Holmes, um auf ihn zurück zu kommen, wird in Das Zeichen der Vier auch als ziemlich ungehobelter Misogyne geschildert, der sich keineswegs mit Watson freuen kann, als der ihm am Schluss des Romans seine Verlobung mit der – nunmehr ehemaligen – Klientin Mary Morstan verkündet. Watson, der auch in späteren Erzählungen den Frauen sehr zugetan bleibt, wird auch nie mehr eine Liebesgeschichte so ausführlich schildern wie in diesem Roman. (Nun ja: Doyle konnte ihn ja auch nicht jedes Mal mit einer Klientin von Holmes verheiraten …)
Bei seinen Figuren also sucht Doyle noch nach der endgültigen Form und dem endgültigen Inhalt. Beim Fall, den Holmes zu lösen hat, hat er den Inhalt im Grunde genommen bereits gefunden. Die Story mit ihren seltsamen Verwicklungen, unwahrscheinlichen Zufällen und exotischem Beigemüse (die ersten Untaten wurden in Indien unter der Kolonialarmee verübt) wird in den späteren Kurzgeschichten im Grunde genommen nur noch variiert. Und das ist nun aber formal Doyles Problem: Die eigentliche Geschichte ist zu dünn für einen Roman. Der Autor muss sie deshalb ungeheuer strecken. Deshalb wohl auch die Liebesgeschichte, deshalb die ausführliche Schilderung von Holmes Drogenkonsum. Deshalb wohl auch der Umstand, dass sich Holmes immer wieder irrt, sich immer wieder korrigieren muss. Wenn zum Beispiel die Bösewichte auf der Londoner Themse mit einem Schiff untertauchen, so lässt Holmes zwar sämtliche Häfen am Unterlauf des Flusses kontrollieren – auf die Idee, zugleich noch einen Blick in die anliegenden Werften zu legen, kommt er aber erst Seiten später. Und wenn er dann das Schiff endlich gefunden hat, lässt er nicht etwa die Werft heimlich von der Polizei umringen, um die Bösewichte zu fangen, wenn sie auftauchen. Nein: Er ordert ein Polizeiboot, wartet damit versteckt auf der Themse, bis die Bösewichte mit ihrem Schiff auslaufen und liefert sich mit ihnen eine Verfolgungsjagd über mehrere Seiten. Das gibt den Bösewichten nicht nur die Chance, auf die Verfolger zu schiessen – nein, sie können auch den geraubten Schatz noch rasch in der Themse versenken. Zum Schluss – es interessiert schon keinen Menschen mehr – erzählt der Oberbösewicht in aller Ausführlichkeit die Geschichte des indischen Raubs. Reine Zeilenschinderei.
Dass Holmes, wie Blogger-Kollege Fränzel (a.k.a. Bonaventura) in einem seiner Postings schreibt, der Versuch ist, die rationale Ordnung einer irrational gewordenen, aus den Fugen geratenen Welt wiederherzustellen, brauche ich nicht zu wiederholen. Dass es ihm nur gelingt, weil sein Autor die Welt schon a priori geordnet hat, auch nicht.
Fazit: Als Kurzgeschichte wäre der Text wohl passabel geworden. Als Roman kann ich ihn nicht empfehlen.
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