Friedrich Glauser: Krock & Co.

Heinrich Gretler als Wachtmeister Studer im gleichnamigen Film von 1939. Schwarzweiss-Porträt von vorne. Ausschnitt aus Buchcover.

Bei Krock & Co. handelt es sich um den fünften Kriminalroman mit Wachtmeister Studer als Ermittler, den Friedrich Glauser geschrieben hat. Es ist zugleich der letzte, den er vollenden konnte. Dass er auch der bei weitem kürzeste ist, hat allerdings nicht mit dieser Tatsache zu tun, sondern erklärt sich aus der Geschichte seiner Entstehung. Als einziger der Wachtmeister Studer- Krimis nämlich ist Krock & Co. als Auftragsarbeit geschrieben worden. Max Ras nämlich, der 1926 die Zeitschrift Der Schweizerische Beobachter1) ins Leben gerufen hatte, erhoffte sich mit einem Roman von Glauser eine signifikante Auflagensteigerung seiner Zeitschrift erreichen zu können. Gleichzeitig wollte er als eine Art Mäzen den Schriftsteller Glauser erst so richtig groß herausbringen – „machen“, wie er es ausdrückte. Allerdings verglühte sein Enthusiasmus rasch. Glauser musste sein Manuskript um rund ein Fünftel kürzen (das Sentimentale herausschmeißen, wie es der Autor in einem Brief an seine Verlobte Berthe Brendel formulierte) und die ersten Kapitel eines neuen Studer-Romans, die Ras zu Gesicht bekam, überzeugten ihn keineswegs. (Allerdings waren die ersten Entwürfe eines neuen Romans bei Glauser noch jedes Mal schwach gewesen und der Autor musste sie jedes Mal noch und noch überarbeiten. Ein wenig Geduld hätte Ras vielleicht weiter gebracht.)

Was wir nun also vor uns haben, ist in gewisser Art das Skelett jenes Romans, den Glauser ursprünglich Die Speiche (nach dem beim ersten Toten verwendeten Mordinstrument) nannte. Ras – und in seiner Nachfolge verwendeten bis 1996 auch die Buchausgaben diesen Titel – taufte den Roman auf Krock & Co. Heute wird er wieder als Die Speiche angeboten, aber ich finde nirgends einen Hinweis darauf, dass die Kürzungen rückgängig gemacht worden wären. Glauser hat damals den Roman direkt vor Ort in Basel gekürzt, und ich vermute, dass die weggefallenen Teile auch gleich vor Ort entsorgt worden sind. Wir haben also in Tat und Wahrheit nicht den ursprünglichen Roman Die Speiche vor uns, sondern nur die gekürzte Version Krock & Co. und meiner Meinung nach sollte er demzufolge auch weiter so heißen und nur eine vollständige Ausgabe den von Glauser geprägten Titel tragen. Ich jedenfalls habe vor mir die alte Diogenes-Ausgabe der gekürzten Version.

Wir wissen nicht, was Glauser heraus gekürzt hat, was das Sentimentale denn nun genau war. Ich fürchte, es handelte sich hier um das, was in den anderen vier Romanen die Atmosphäre, die Stimmung, ausmachte – etwas, das hier nämlich fast völlig fehlt. Der Roman wirkt so ungewöhnlich kalt und emotionslos. Zwar ist das kriminalistische Skelett so stringent und logisch, wie man es von einem Kriminalroman erwarten darf. Aber es geht nicht tiefer, wie man es bei Glauser sonst kennt.

Mit ein Grund für dieses Ungenügen mag wohl sein, dass auch das Setting unglücklich gewählt war. Bisher hatte Glauser immer Orte für Wachtmeister Studer gewählt, die er selber aus dem ff kannte: Arbeits- und Erziehungsanstalten, psychiatrische Kliniken – das Milieu der Kleinkriminellen, in deren Welt dann plötzlich ein Delikt ganz anderer Dimension platzt, ein Mord. Diese Kleinkriminellen mit ihren Ecken und Kanten, ihren guten und schlechten Seiten, waren Glauser (und damit auch Studer) wohl bekannt. Dazu spielten bisher alle anderen Romane zumindest teilweise in Stadt oder Kanton Bern. Dieses Mal aber finden wir Studer als Gast bei der Hochzeit seiner Tochter2) auf einem Ausflug ins Appenzellerland wieder. Sie machen fürs Abendessen Halt in einem Hotel, das der ehemaligen Jugendliebe Studers gehört. Der Wachtmeister agiert also an einem ihm und seinem Autor im Grunde genommen völlig fremden Ort (nicht einmal die Sprache der Einheimischen versteht er ganz!), auch wenn Glauser die Verwandten seiner Verlobten Berthe Brendel, die im Kanton Appenzell wohnte, einmal besucht hat. Auch die Reihe der Verdächtigen besteht aus lauter Personen, die nicht dem Milieu der Kleinkriminellen zuzurechnen sind, auch wenn zwei Männer da sind, die in recht ärmlichen Verhältnissen leben. (Und deren Zeichnung dann Glauser auch am besten gelungen ist.)

Die Kriminalhandlung spielt, in Ermangelung eines intimeren Settings, in der Welt der Finanzdelikte. Studer nämlich enttarnt einen Ring von international tätigen Wucherern, deren Zentrale – ausgerechnet! – in Mannheim zu finden ist. Und wie das Setting nachgerade spektakulär ist (wenn es nachher auch im Großen und Ganzen sehr unspektakulär abgehandelt wird), so ist auch die Szene, in der Studer die Morde erklärt und den Mörder enthüllt für einmal äußerst spektakulär gehalten. Studer (und mit ihm natürlich auch Glauser) gibt sogar offen zu, dass er die Idee aus einem alten Buch genommen hat3).

Und dann ist da noch die Sache mit dem Wermut. Dazu muss ich aber vorausschicken, dass sich im Lauf der Geschichte nicht nur die Sekretärin (angeblich zur Kur), sondern auch eine Vertraute des Chefs der lokalen St. Galler Sektion der Wucherer-Mafia, einer seiner Mitarbeiter und zum Schluss auch noch der St. Galler Chef persönlich im kleinen Appenzeller Kaff einfinden, in der die Geschichte spielt. Der Chef nun (da ist sein Mitarbeiter bereits mit einer Fahrradspeiche ermordet worden) findet sich eines Abends zusammen mit Studer und dessen Schwiegersohn4) im Aufenthaltsraum des Hotels wieder. Plötzlich erscheint die Saaltochter5), eine Italienerin, mit einem Tablett in der Hand, auf dem drei gefüllte Gläser stehen. (Auch diese Saaltochter, wird sich herausstellen, gehört dem Wucherer-Ring an.) Sie stellt die drei Gläser als eine Gabe des Hauses vor die drei Männer. Alle drei trinken; der St. Galler begibt sich zum Klavier, um etwas zu spielen. Auf dem Klavierstuhl sinkt er aber tot zusammen – sein Wermut war vergiftet. So weit, so gut, aber im späteren Verlauf der Erzählung wird Studer zugeben, dass ihm die Geschichte mit den bereits gefüllten Gläsern seltsam vorkam. Einerseits würden üblicherweise Gläser im Beisein der Gäste gefüllt, so, dass diese auch die Flasche sehen könnten, und andererseits waren ihm der St. Galler, ebenso wie die Saaltochter, bereits verdächtig. Er habe also sein Glas mit dem des St. Gallers vertauscht. So weit, so gut, aber als der Mörder zum Schluss die Geschichte zusammenfasst, wird klar, dass er eigentlich den St. Galler, in dessen Wucherer-Finger er gefallen war, umbringen wollte. Die von ihm instruierte italienische Saaltochter ihrerseits hatte aber eine Privatfehde mit Studer und vertauschte die Gläser so, dass das vergiftete nun vor Studer stand. So weit, so gut und kompliziert – was aber nicht thematisiert wird, weder von Studer noch von seiner Frau und auch nicht von Glauser selber, ist die Tatsache, dass, wenn die Italienerin nicht eingegriffen hätte, Studer in seinem Misstrauen sein unvergiftetes Glas gegen das vergiftete des St. Gallers vertauscht hätte! Studers infantiles Angeben mit seinen Fähigkeiten vor seinem tumben Schwiegersohn hätte für ihn wahrlich tödliche Konsequenzen haben können. Doch darüber verliert niemand ein Wort.

Ja, als Studer zum Schluss sein Hedy damit neckt, dass er wohl, wenn sie nicht wäre, nun zum Inhaber eines Hotels avanciert wäre, antwortet ihm seine Frau nur, dass er dankbar sein dürfe, kein Hotel zu besitzen. Auf Studers Nachfrage gibt sie als Grund an, dass er sonst den ganzen Tag Billard spielen und zu viel Wermut trinken würde. Diese Bemerkung ist absolut unverständlich: Weder hat sich Studer in den fünf Romanen als exzessiver Billard-Spieler gezeigt, noch figurierte Wermut unter seinen Getränken – und dies, obwohl er ganz eindeutig sehr gern alkoholischen Getränken zusprach (meist allerdings Bier oder Wein). Entweder ist Glauser hier etwas durchgerutscht, oder aber (wie ich persönlich glaube) die Erklärung dieser seltsamen Anspielung wäre in jenem Fünftel zu finden, das Glauser hat streichen müssen.

Dem sei, wie dem ist. Auf jeden Fall haben wir hier den schwächsten aller fünf Kriminalromane mit Wachtmeister Studer vor uns. (Dass er allerdings sein Vorbild Doyle auch so noch übertrifft, sei nur am Rande bemerkt.)


1) Diese Zeitschrift gibt es noch heute. Sie nennt sich unterdessen einfach Beobachter und widmet sich ausschließlich Konsumentenfragen und -beratung.

2) Da im ersten Roman, Wachtmeister Studer gerade Studers Enkel, der kleine Jakobli im Thurgau zur Welt gekommen ist, müssen wir annehmen, dass diese Geschichte hier vor allen übrigen spielt. Allerdings ist Studer auch hier schon der über eine Bankaffäre gestolperte ehemalige Kommissär der Berner Stadtpolizei, nunmehriger Wachtmeister der Kantonspolizei.

3) Gemeint ist die Kurzgeschichte The Norwood Builder, welche Conan Arthur Doyle 1903 geschrieben hatte, und in der Sherlock Holmes den Mörder auf die gleiche Art und Weise aus seinem Versteck lockt, wie es nun hier Wachtmeister Studer tut. Allerdings ist diese Idee, die bei Holmes völlig zur (wie immer bei Doyle!) spektakulären und ausgefallen-gruseligen Geschichte passt, beim bodenständigen Studer dann doch etwas fehl am Platze.

4) Der im Übrigen nur zwei Rollen hat: Erstens durch seine Heirat mit Studers Tochter ihn überhaupt in die Ostschweiz gelockt zu haben, und zweitens daneben als Mittelsmann der Lesenden zu fungieren, wenn Studer ihm Dinge erklären muss, die wir Lesenden wissen sollten, die wir aber natürlich nicht selber sehen können. Da kommt Glauser dieser etwas tumbe Korporal der Thurgauer Kantonspolizei gerade gelegen, denn nun hat Studer jemanden, dem er die Lage der Dinge erklären kann, womit sie natürlich auch wir Lesenden erfahren.

5) So wurden früher in der Schweiz jene Kellnerinnen genannt, die die Verantwortung trugen für die Ausstattung des Speisesaals eines Restaurants oder eines Hotels, im Gegensatz zu jenen Kellnerinnen, die einfach nur das Essen auftrugen, und die „Serviertöchter“ genannt wurden. Die „Saaltochter“ habe ich nur noch in meiner frühesten Kindheit gehört – die „Serviertochter“ hat länger überlebt, ist aber natürlich heute kein korrekter Ausdruck mehr.

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