Marcel Proust: À la recherche du temps perdu II. À l’ombre des jeunes filles en fleurs (3) [Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Im Schatten junger Mädchenblüte]

Schrift "A LA RECHERCHE DU TEMPS PERDU" rot auf beige. Ausschnitt aus Buchcover.

Heute schreibe ich zum dritten und letzten Abschnitt von Im Schatten junger Mädchenblüte. Wir haben unseren Ich-Erzähler verlassen, wie er gerade noch den homosexuellen Avancen des Baron de Charlus entkommen ist (ohne allerdings zu merken, dass es homosexuelle Avancen waren). Charlus nun ist wieder abgereist, und der Ich-Erzähler verbringt noch ein paar Tage in Gesellschaft seines neuen Freundes Saint-Loup. Eines Abends nun, wie die beiden in einem Restaurant am Stadtrand von Balbec dinieren, setzt sich der bekannte Maler Elstir an einen Nebentisch. Die beiden suchen und finden schließlich seine Bekanntschaft. Elstir scheint gegenüber dem Ich-Erzähler eine gewisse Freundschaftlichkeit zu empfinden und lädt ihn (nicht aber Saint-Loup!) ein auf einen Besuch im Atelier.

Dieser wird später auch stattfinden und es ereignet sich dort die berühmte Szene, in der der Maler dem jungen Enthusiasten im eigentlichen Sinn des Wortes die Augen für die darstellenden Künste öffnet – ihm nämlich beibringt, wie man ein Kunstwerk wirklich zu betrachten, es wirklich zu vergleichen hat. Das klingt nun nach einem klassischen Bildungs- oder Künstlerroman, wo der angehende Autor eine Art ästhetische Schule durchmacht. Doch Proust konterkariert den Bildungsroman ständig. Da ist zum einen die Tatsache, dass das literarische Schaffen des Ich seit dem Beginn des zweiten Buchs offenbar vollständig zum Erliegen gekommen ist. Er träumt nur noch von Büchern, die er geschrieben haben wird, aber diese Träume sind sehr vage gehalten und betreffen unterdessen mehr die gesellschaftliche Stellung, die er durch seinen Autorenruhm einnehmen wird.

Und dann ist da noch etwas anderes – besser gesagt: jemand anderes. Noch besser gesagt: gleich ein paar andere Personen. Eines Abends nämlich, als unser Ich auf dem Deich spazieren geht, begegnet ihm ein Trupp von vier oder fünf jungen Frauen. („Junge Frauen“ schreibe ich. Tatsache ist, dass diese jungen Dinger noch im Vorjahr Kinder gewesen sind, wie der Ich-Erzähler selber berichtet, nachdem er Fotografien der Clique aus dem Vorjahr gesehen hat – nebenbei gesagt, in einer, für Proust typischen, Verschränkung von Erzählzeiten, in einem Vorgriff auf den schlussendlichen Erfolg, den unser Ich-Erzähler hat bei seinen Versuchen, die Clique zu kontaktieren.) Eine der jungen Frauen lässt ihren Blick eine Zehntelsekunde länger auf ihm ruhen als die anderen, und das genügt, um ihn zu entzünden. Er verliebt sich sofort in sie und will sie nun kennen lernen. Deswegen spaziert er nun stundenlang auf dem Deich herum, immer in der Hoffnung, dass diese Clique nochmals dort durchkommt. Er beeilt sich mit den Mahlzeiten, die er im Hotel einnehmen muss, weil er von dort den Deich nicht unter Kontrolle hat. Er verzichtet auf die Abendausfahrten, die Mme de Villeparisis ihm und seiner Großmutter spendiert; auch den Besuch bei seinem Freund Saint-Loup, der unterdessen zu seiner Einheit zurück in die Garnison einer Nachbarstadt musste (man fürchtet einen Krieg mit Deutschland), verschiebt er von Mal zu Mal. Und selbst der Einladung von Elstir will er nicht nachkommen, trotz der Tatsache, dass er davon sogar seiner Großmutter voller Freude erzählt hat. Diese wiederum, die Elstir unbekannterweise sehr schätzt, übt großen Druck auf den Ich-Erzähler aus. Schließlich gibt er nach, und dabei mag auch mitgespielt haben, dass er die jungen Frauen seit jenem einen Mal nicht mehr gesehen hat und langsam nicht mehr daran glaubt, sie je wieder zu treffen.

Wer schildert sein Erstaunen (wie es so schön in verschiedenen Schmonzetten heisst – tatsächlich schildert Proust ja das Erstaunen des Ich-Erzählers), als er dort genau jene junge Frau an Elstirs Haus vorbei gehen sieht, die ihn mit ihrem Blick so fasziniert hat! Nicht nur das: Elstir kennt sie sogar und sie kommt regelmäßig an seinem Haus vorbei. Nun hat der junge Mann, der soeben noch interessiert Elstirs kunsttheoretischen Ausführung zugehört hat und dabei die Bilder in seinem Atelier betrachtet, keine Ruhe mehr. Er hat Elstir versprochen, ihn auf seinem täglichen Abendspaziergang zu begleiten. Da er nun vermutet, dass Albertine (sie ist es nämlich) sich an der Küste mit dem Rest ihrer Clique trifft, möchte er je früher desto lieber losmarschieren. Elstir aber will zuerst seine Blumen fertig malen. Es dämmert schon stark, als die beiden aufbrechen, und unser Ich-Erzähler hat schon die Hoffnung verloren, die jungen Frauen noch anzutreffen. Sie tun es dann doch, aber während Elstir auf sie zugeht und mit ihnen spricht, hält sich der junge Mann ein paar Meter zurück und tut, als ob ihn gerade das Schaufenster eines Antiquariats sehr stark interessiere. Insgeheim hofft er aber, dass ihn Elstir rufen und den jungen Frauen vorstellen werde. Der aber tut nichts derartiges. Er verabschiedet sich von den Frauen, diese biegen in eine Querstraße ab und – der junge Mann schaut fast wörtlich in den Mond.

Auch später wird sich immer wieder zeigen, dass unser Ich-Erzähler, obwohl er selber von sich sagt, ein paar Jahre älter zu sein als die Mitglieder der Clique, in Tat und Wahrheit vielleicht in aestheticis der Reifste ist, in Bezug aufs andere Geschlecht aber die Unreife eines zwölfjährigen Pubertierenden aufweist. Das wird auch im Rest des Buchs Im Schatten junger Mädchenblüte nicht ändern. Mehr noch als Flauberts Éducation sentimentale ist diese hier ein Misserfolg. (Bei beiden ist übrigens die Verschiebung zu beachten, die im 19. und im beginnenden 20. Jahrhundert noch notwendig war, wo sexuelles Begehren immer als „Liebe“, als „Gefühl“, beschrieben werden muss. Proust allerdings kann etwas weitergehen, und er beschreibt eine Szene, in der sein Ich-Erzähler zu Albertine aufs Zimmer darf, wo sie alleine im Nachthemd im Bett liegt. Unerfahren, wie er ist, hält er das gleich für eine Einladung zum Beischlaf und stürzt sich auf die junge Frau wie ein Überfallkommando. Albertine klingelt – wir sind im Hotel – und das nächste, was Proust erzählt, ist, wie sie den jungen Mann am nächsten Tag ausschimpft. Dies ist typisch für Prousts Erzählweise, der genau dort abbricht, wo sein Publikum mehr erwarten würde. Proust referiert lieber seitenlang die – manchmal recht pubertären – Reflexionen seines Ich-Erzählers über die Frauen und die Gesellschaft im Allgemeinen.)

Auch der Schluss dieses Buchs ist in genau diesem Stil gehalten. Die Saison in Balbec ist schon lange zu Ende – und plötzlich sind alle, auch die ganze Clique inklusive Albertine, abgereist. Das Buch endet damit, dass sich der Ich-Erzähler an ein Erwachen an einem der vielen schönen Sommermorgen erinnert, die er in Balbec erlebt hat. So zeigt sich schän, dass unser Ich im Grunde genommen nur im Nachhinein lebt, in der Erinnerung, in der Reflexion – und in seinen Träumen.

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