Jochen Schmidt (Hrsg.): Aufklärung und Gegenaufklärung in der europäischen Literatur, Philosophie und Politik von der Antike bis zur Gegenwart

Auf violettem Hintergrund (links und rechts noch zu sehen) verschiedenfarbige Quadrate in einander gestellt in einem größeren weißen Quadrat. Ausschnitt aus Buchcover.

Wenn ich mich recht erinnere, stammen die vorliegenden Aufsätze aus einer Ringvorlesung, die im Wintersemester 1987/88 an der Universität Tübingen abgehalten wurde und die 1989 in dieser Aufsatzsammlung bei der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft in Darmstadt erschienen. Damit ist schon darauf hingewiesen, dass die Gegenwart, die vorliegendes Buch abdecken soll, nun auch schon wieder ein Vierteljahrhundert her ist. Deswegen sind die hier versammelten Aufsätze nicht weniger gültig – mit Ausnahme vielleicht des letzten und einzigen, der tatsächlich die Gegenwart abdecken soll, Aufklärung und Gegenaufklärung in der Bundesrepublik [gemeint ist damit, wie damals üblich, die BRD] von Iring Fetscher, der mehr oder minder eine Auseinandersetzung des Autors mit dem (bzw. eine Einmischung in den) so genannten ‚Historikerstreit‘ darstellt, in der sich der Autor auf die Seite von Habermas und Apel stellt. Dieser ‚Historikerstreit‘ war zwar 1989 sicher wichtig, aber aus einer im Prinzip kurzzeitigen, temporären Erscheinung gleich ein Beispiel für Aufklärung und Gegenaufklärung zu destillieren, ohne diese Begriffe anders als über einen Bezug auf Horkheimer / Adornos Dialektik der Aufklärung zu definieren, muss notwendigerweise zu kurz greifen.

Neben der zeitlichen Einschränkung der Gegenwart ist ein weiteres immenses – aber natürlich genau aus der Entstehungszeit erklärbares – Defizit dieser Aufsatzsammlung die Tatsache, dass Aufklärung wie Gegenaufklärung offenbar eine rein männliche Sache war: Weder ist eine weibliche Autorin in der Sammlung vertreten, noch wird z.B. die Emanzipation der Frau diskutiert. Auch den Begriff „europäisch“ sollten wir cum grano salis verstehen. Es werden nämlich nur Vertreter der französischen und deutschen Literatur und Philosophie besprochen, mit gelegentlichen Ausflügen nach England. Allenfalls für die Renaissance kommen die Autoren nicht um Italien herum.

Vor allem aber zeigt sich – nicht nur am Beispiel von Fetscher und von Horkheimer / Adorno – die Problematik des Begriffs „Aufklärung“ an sich. Selbst auf jene Periode eingeschränkt, die man üblicherweise in der Geschichte (der Philosophie) „Aufklärung“ nennt, kann der Begriff Verschiedenes bedeuten – kein Wunder bei einer Epoche, die heute von ca. 1650 bis ca. 1800 datiert wird. „Gegenaufklärung“ als Epoche im Übrigen existiert schon gar nicht erst. Selbst für die Zeit von 1680 bis 1800, um einen Kalauer zu verwenden, oszilliert der Begriff „Aufklärung“ aber nicht nur – er schillert, er herdert, er hegelt, er romantisiert, ja er wird später gar heideggern. Je nach Standpunkt des Referenten kann eine Persönlichkeit der Vergangenheit, bzw. eine bestimmte Aussage, als aufklärerisch oder als gegenaufklärerisch eingestuft werden. Ein schönes Beispiel in dieser Sammlung haben wir mit den beiden Aufsätzen von Ulrich Gaier (Gegenaufklärung im Namen des Logos: Hamann und Herder) und Jürgen Brummack (Herders Polemik gegen die „Aufklärung“), in denen Gaier Hamann als Aufklärer rettet und Herder zum Gegenaufklärer erklärt, Brummack dann aber auch in Herder einen Aufklärer findet. Die Erklärung für diesen scheinbaren Widerspruch ist einfach: Gaier erklärt Hamann zu einem Aufklärer, weil er gegenüber Kant die sprachliche Bedingtheit einer jeden Philosophie geltend macht, während Herder sich auf den Glauben zurückzieht; Brummack hingegen weist darauf hin, dass auch Herder die Aufklärung nicht annullieren will, sondern um den Hinweis auf die Geschichtlichkeit eines jeden „Sprechens über“ ergänzen.

Mit Hamann und Herder aber befinden wir uns noch innerhalb der philosophiegeschichtlich halbwegs festgelegten Epoche der „Aufklärung“ – einer Epoche, die sich vor allem auch darin auszeichnet, dass sich deren Vertreter selber als „Aufklärer“ oder (selten explizit) als Gegner der Aufklärung oder einer spezifischen Form von Aufklärung auffassten. Nicht umsonst wurde zu jener Zeit die Frage „Was ist Aufklärung?“ mit Bezug auf die eigene Zeit gestellt und beantwortet. Den Begriff „Aufklärung“ nun aber aus dieser seiner Zeit herauszunehmen und auf andere Epochen anzuwenden, birgt ein nicht geringes Risiko, indem Entwicklungen der anderen Epoche umgedeutet werden und mit Zügen versehen (müssen), die der Aufklärung eigen sind, aber zum Beispiel nicht der oft als „Aufklärung der Antike“ apostrophierten Sophistik. Je mehr man den Begriff „Aufklärung“ auf andere Epochen anwendbar machen will, desto mehr muss er verwässert werden. Der Generalnenner der „Aufklärung“ in den vorliegenden Aufsätzen ist deshalb in etwa Folgender: Eine Geisteshaltung, die die Anwendung vernünftigen (d.i. in vielen Fällen: logisch nachvollziehbaren) Denkens bevorzugt und die dieses Denken wenn möglich allen Menschen gleichermaßen zugänglich machen will. Dieses Denken ist auch das bevorzugte wissenschaftliche Vorgehen und weist politische Implikationen auf. „Gegenaufklärung“ unterscheidet sich von aufklärerischer Kritik an der Aufklärung dadurch, dass die Gegenaufklärung auf einen alten (politischen, philosophischen, wissenschaftlichen) Standpunkt zurück kehren will, nicht weil die Aufklärung irgendwo danach falsch abgebogen wäre (denn dann würde man wieder von dort aus weiterfahren wollen), sondern weil der alte Standpunkt die Partikularinteressen der Gegenaufklärer besser vertritt und deshalb erhalten bleiben soll. Horkheimer / Adorno treiben aufklärerische Kritik an der Aufklärung, wenn sie monieren, dass sich Teile der Aufklärung in blinden, den Menschen ignorierenden, technischen Verbesserungswahn gesteigert haben, der unmenschlich geworden ist; sie gehören aber insofern wieder zur Gegenaufklärung als sie die Wissenschaft gleich unter Generalverdacht setzen und verurteilen. Das gilt auch für fast alle anderen hier besprochenen Autoren und Texte, die jeder für sich mal aufklärerisch, mal gegenaufklärerisch handeln und argumentieren.

Mehr als dies lässt sich meines Erachtens aus den vorliegenden Aufsätzen für die Problematik von „Aufklärung“ und „Gegenaufklärung“ im Allgemeinen nicht ziehen. Einige der Aufsätze sind als ein Stück „Spezialaufklärung“ zu einem Denker oder einer Epoche nicht uninteressant, andere schon (z.B. Rüdiger Bubners Rousseau, Hegel und die Dialektik der Aufklärung – aber das mag auch an meiner Aversion gegen Hegel liegen).

Wichtig scheint mir auch der öfters wiederholte Hinweis, dass Kritik an der Aufklärung aus aufklärerischem Geist umschlagen kann in eine gegenaufklärerische Haltung, bzw., dass Argumente der sich selber aufklärenden Aufklärung übernommen werden durch Gegenaufklärer. Hierzu ist paradigmatisch der Aufsatz von Helmuth Kiesel, Aufklärung und neuer Irrationalismus in der Weimarer Republik, der aufzeigt, wie eigentlich aus aufklärerischem Geist die Aufklärung kritisierende Stimmen immer lauter und heftiger geworden sind, ohne zu bemerken, dass, was ‚Aufklärungsinterna‘ sein sollten, von der Gegenaufklärung dankbar aufgenommen und als eigene Argumente weiter verwendet wurden. Als paradigmatisch nimmt Kiesel Döblins Aussage, dass die Aufklärung eine Erziehung zu Papageien sei – eine Aussage, die Döblin später, als er sah, wohin die Gegenaufklärung führte, die nun diesen Ausdruck im Mund führte, wohl gern zurück genommen hätte. Kiesels Aufsatz schließt mit folgenden Worten:

Die Defizite der massiven Aufklärungs- und Rationalitätskritik der zwanziger Jahre sind heute deutlich. Wohl war sie in vielen Punkten berechtigt und meist gut gemeint, und in vielen Fällen – etwa bei Döblin und Musil – war sie entschieden antitotalitär, wie dies heutige Rationalitätskritik ist. Aber: In ihrem Begehren, den überkommenen „Logozentrismus“ und „Panlogismus“ [in einer Anmerkung verweist Kiesel hier auf den Schöpfer dieser Wortkreationen, Ludwig Klages] zu schwächen, öffnete sie auch den aggressiven Irrationalismen des Nationalismus und des Rassismus die Einfallstore und half, die Zeitgenossen des Rationalitätsschutzes gegenüber den totalitären Ansprüchen dieser Irrationalismen zu entkleiden. Die unbeabsichtigt negativen Folgen der Rationalitätskritik der zwanziger Jahre müssen der heutigen Rationalitätskritik zu denken geben.

Nun, sie taten es nicht, und so haben wir heute, ein Vierteljahrhundert später, sogar US-amerikanische Präsidenten, die sich nicht entblöden von einer „alternativen Wahrheit“ zu faseln und die damit im Publikum riesige Zustimmung ernten. Die prophetischen Schlussworte Kiesels waren für mich der wohl wichtigste Teil dieser Sammlung. Ob, was hier losgetreten wurde, noch gestoppt werden kann, werden wohl das nächste Vierteljahrhundert zeigen.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert