Alain de Botton: Kunst des Reisens

Vor einem mit Wald bewachsenen Hügel macht sich ein Mann an einer roten Zapfsäule der 1930er zu schaffen. Ausschnitt aus dem Gemälde "Gas" von Edward Hopper (1940); fürs Buchcover um 90° im Gegenuhrzeigersinn gedreht.

Als die Pandemie Europa so richtig im Griff hatte und Reisebeschränkungen Alltag wurden, startete die Büchergilde eine neue Reihe, Büchergilde unterwegs, herausgegeben von Julia Finkernagel. Seither sind über ein Dutzend Bände erschienen, die im weitesten Sinne alle mit Reisen zu tun haben – jedes Quartal eines. Ich habe – mit Ausnahme des Büchleins Orientreisen von Annemarie Schwarzenbach, das ich bereits in der Verlagsausgabe gelesen und hier darüber geschrieben hatte, alle Bände der Reihe gekauft und hier vorgestellt. Die Reihe enthält eine bunte Mischung: Bekannte und (mir) unbekannte Namen, von den bekannteren Namen Texte, die man (ich) wiederum weniger kennt. Wirklich schlecht war kein Text, auf zwei oder drei hätte ich allerdings verzichten können.

Nun kam also im vierten Quartal 2022 die Kunst des Reisens von Alain de Botton (Originalausgabe 2002, The Art of Travel, bei Hamish Hamilton, London; die deutsche Übersetzung von Silvia Morawetz noch im gleichen Jahr bei S. Fischer). De Botton gehört zu den mir bisher unbekannten Namen. In ihrem Vorwort nennt ihn Julia Finkernagel sinngemäß einen Reisephilosophen:

Das hier ist keine leichte Kost – es ist ein bisschen Arbeit. Eine beeindruckende Vorlesungsreihe in Philosophischer Kulturanthropologie (mit Kunstgeschichte, Malerei und Literatur im Nebenfach). In dieser hochintelligenten Sammlung nimmt Alain de Botton das Reisen auseinander und seziert es auf liebevolle, wenngleich äußerst gewissenhafte Weise. [S. 9f]

Es ist wirklich nicht gänzlich verkehrt, de Botton einen ‚Reisephilosophen‘ zu nennen. Zum einen, weil er tatsächlich in Cambridge und London Philosophie studiert, in London mit dem Master abgeschlossen, eine Dissertation dann zu Gunsten eigener Projekte weggelegt hat. Zum anderen weil er, unter Rückgriff auf frühere Autoren, zumindest versucht, eine Art theoretischer Unterfütterung des Reisens zu geben. Oder vielleicht besser: eine Art Ratgeber, worauf man beim Reisen prinzipiell zu achten hätte.

Das Büchlein unterteilt sich in die Kapitel Abreise (mit den Unterkapiteln Über Erwartungen und Über Reisestationen), Gründe für das Reisen (mit den Unterkapiteln Über das Exotische und Über Wissbegierde), Landschaften (mit den Unterkapiteln Über Stadt und Land und Über das Erhabene), Kunst (mit den Unterkapiteln Über Kunst, die die Augen öffnet und Über die Erlangung des Schönen), sowie zum Schluss natürlich die bei jedem Reisen unvermeidliche Rückkehr (mit nur einem Unterkapitel, Über Gewöhnung).

Jedes Unterkapitel führt auf dem Titelblatt die Orte der (Reise-)Handlung auf und den Führer, hier Guide genannt, – will sagen den Autor, der für die Leitplanken der theoretischen Unterfütterung dieses Unterkapitels besorgt ist. Bei der Erwartung geht es darum, dass wir an das Reisen, an das Reiseziel, bestimmte Erwartungen stellen, die nicht immer erfüllt werden – nicht erfüllt werden können, weil wir letzten Endes immer uns selber mitschleppen. Hier ist der Guide Joris-Karl Huysmans, bzw. dessen Roman À rebours von 1884, in dem der Protagonist Des Esseintes plötzlich vom Verlangen gepackt wird, sein zurückgezogenes Leben in einem Pariser Vorort zu verlassen und nach London zu reisen. Er speist unterwegs in einem englischen Pub in der Nähe des Pariser Abfahrtsbahnhofs und kommt zum Schluss, dass er eigentlich in London nicht mehr ‚London‘ erleben könne, als er es gerade in diesem Pub tut. Er kehrt auf der Stelle um, um nie mehr zu verreisen.

Über Reisestationen weist darauf hin, dass wir unterwegs sehr viel mehr erleben und sehen, als wir wirklich abspeichern und unseren Freunden erzählen, zum Beispiel unter dem Begriff ‚Griechenlandurlaub 2023‘ – nämlich alle zwischen uns und dem Reiseziel liegenden Dinge wie Tankstellen, Flughäfen oder Bahnhöfe, die wir zwar im Moment wohl wahrnehmen, die aber im wahrsten Sinn des Wortes etwas Transitorisches für uns haben. Edward Hopper, der große Maler der Einsamkeit des Reisens ist hier sein Guide und Charles Baudelaire. Letzterer, weil auch er aus seinem französischen Alltag ausbrechen wollte als junger Mann, und dann doch nie an einem Ziel ankam.

Das Exotische, der Reiz des völlig anderen, Unbekannten, wird ausgeführt an Hand der Ägypten-Reise, die der junge Flaubert ausführte, und auf der dieser unter anderem eine größere (auch sexuelle) Freiheit kennen lernte, als sie damals in Frankreich herrschte. Die heutigen Pauschalreisen zu den Bordellen von Thailand – eine Reiseform, von der de Botton übrigens nicht spricht! – sind der traurige Abklatsch dieser Form von Sehnsucht nach dem Exotischen.

Die Wissbegierde stellt dann quasi die ‚akademische‘ Form des Reisens um der Exotik willen vor. De Botton schildert hier als schlechtes Beispiel seine eigene, gescheiterte ‚Bildungsreise‘ nach Madrid, wo ihn das Durcheinander von Epochen und Stile, die er aufs Mal erblickte, ganz einfach nur abschreckte und langweilte. Auf der anderen Seite steht für ihn Alexander von Humboldt, der ebenfalls um des Wissens willen reiste, dabei aber Erfolg hatte. (Was unter anderem – de Botton deutet das nur an – seinen Grund darin hatte, dass sich Alexander von Humboldt über Jahre hinweg auf diese Expedition vorbereitete und sich dann auch Jahre dafür Zeit ließ.)

Bei Stadt und Land wird de Botton dann typisch englisch. Sein Gewährsmann ist hier William Wordsworth, der die Stadt perhorreszierte und sich aufs Land, in den Lake District, flüchtete. Anders als noch ein paar Jahre früher der Stadtmensch Samuel Johnson, der in Schottland einfach nur kahle Hügel sah, begann Wordsworth kleine und kleinste Naturphänomene zu betrachten und in Gedichten zu beschreiben. Damit gründete er nicht nur die sich stark an der Natur orientierende englische Romantik, sondern auch die Sehnsucht nach Natur und Landschaft, die bis heute die Leute dazu treibt, mit großen, stinkenden SUVs im Wald und auf den Feldern herumzukurven. Er begründete die Landschaft als Gegensatz zur Stadt, und damit als erstrebenswertes Reiseziel, die Landschaftsmalerei gleich um die Ecke – und, last but not least: Den Tourismus in den Landschaften von England und Schottland.

Mit dem Begriff des Erhabenen treten wir dann in die Ästhetik – und in Edmund Burkes Jugendschrift Vom Erhabenen und Schönen, in der dieser als einer der ersten nicht nur das Gefällige (das Gänseblümchen am Straßenrand) als Objekt der Ästhetik, und damit der Kunst, erfasste, sondern auch das Schreckliche, durch seinen Schrecken Angst Machende – eine Angst, die dann in das ästhetische Gefühl des Erhabenen aufgelöst wird. Zum Erhabenen zählen alle wirklich riesigen Naturformationen: Wüsten, Gebirge etc. (Von hier eine Brücke zu bauen zum zweiten Guide dieses Kapitels, Hiob, benötigt aber dann wohl doch eine gewisse Frömmigkeit, über die ich nicht verfüge. Ich kann das Buch Hiob wohl als literarisches Ereignis lesen, aber eine Erhabenheit Gottes finde ich darin nicht.)

Die Kunst, die die Augen öffnet wird exemplifiziert an der Provence, deren ganz eigenes Licht die Menschen erst ‚sahen‘, nachdem ein gewisser Vincent van Gogh seine Bilder dort gemalt hatte (die zunächst als ‚falsch‘ galten, weil die Menschen erst das Licht sehen lernen mussten, das van Gogh gesehen hatte). De Botton weiß aus eigener Erfahrung (ebenso wie ich), dass wir heute tatsächlich nicht mehr durch die Provence reisen können, ohne sie ‚mit den Augen van Goghs‘ zu sehen.

Wie man (eventuell) zu solchen Augen kommt, versucht das nächste Kapitel (Über die Erlangung des Schönen) zu zeigen. Zum Guide nimmt er hier John Ruskin – nicht den Schilderer der venezianischen Architektur, wie ich zuerst vermutet hatte, sondern den Mann, der Londoner Arbeitern Zeichenunterricht gab. Dies nicht, weil er aus ihnen Künstler machen wollte, sondern weil er sie das genaue Hinschauen lehren wollte. Das kann man, so Ruskin und in seinem Gefolge de Botton, auch mit verbalen Schilderungen erreichen.

Alle diese Reisetricks und -tipps kann man – und das bildet das Schlusskapitel Rückkehr, Über Gewöhnung, – im Alltag einsetzen. Sei es, dass man bewusst aus dem Bus schaut, bewusst die Straßen seiner Nachbarschaft, seines Kiez, studiert, sei es gar, dass man seine eigene Wohnung einmal genauer betrachtet. Sein Guide hier ist Xavier de Maistre, der 1794 eine Reise durch die eigene Wohnung geschrieben und veröffentlicht hat. (Was de Botton verschweigt: Xavier de Maistre tat das nicht ganz freiwillig. Er stand gerade wegen eines unerlaubten Duells in Turin für 42 Tage unter Hausarrest, durfte also diese seine Wohnung gar nicht verlassen.)

Im weitesten Sinne haben wir tatsächlich eine Philosophie des Reisens vor uns. Nicht ohne Genuss und Nutzen für sich selber zu lesen, auch wenn de Botton für einen Philosophen manchmal zu sehr über Details hinwegsieht oder -geht.

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