Noch einmal kehrte Joseph Roth in diesem, seinem letzten Roman in die Donaumonarchie als Schauplatz zurück. Wie schon im Radetzkymarsch und in der Kapuzinergruft herrscht auch hier der scheinbar leichte, heiter-nostalgisch über den Dingen, Ereignissen und Menschen ,Kakaniens, schwebende Ton. Das wird verstärkt durch Einleitung und Schluss, die beide von einem Besuch des Schahs von Persien in Wien erzählen und damit einen märchenhaften Ton anschlagen. Doch anders als in den beiden anderen Romanen, in denen dies sozusagen mit eine Hauptrolle spielte, wird in der Geschichte der 1002. Nacht der Untergang von Österreich-Ungarn bzw. von Österreich überhaupt nicht thematisiert. Wie sich aus einer Bemerkung zum Türkenkrieg berechnen lässt, setzt die Geschichte der 1002. Nacht ungefähr 1880 ein. Der uneheliche Sohn der Mizzi Schinagl mit dem Rittmeister Alois Franz Baron von Taittinger, der zu Beginn noch gar nicht gezeugt ist, zählt am Ende rund 20 Jahre. Das Ende von ‚Kakanien‘ liegt also noch in weiter Ferne, und es ist bezeichnend für den Roman, dass keine der Figuren auch nur ahnt, dass es einmal dazu kommen wird. Sie leben, wie wenn die Doppelmonarchie tatsächlich so unendliche Dauer aufweisen würde, wie es die Habsburger-Dynastie suggerierte, als sich Franz Joseph Karl 1848, gerade mal 18 Jahre alt, zum Kaiser Franz Joseph I. krönen ließ, obwohl ihm nie ein zweiter dieses Namens mehr folgen sollte.
Dass seine Figuren den dräuenden Untergang des Reichs nicht merken, nicht spüren, heißt aber nicht, dass es sein Autor nicht weiß. Der heiter-nostalgische Ton trügt. Man ist versucht zu sagen, dass Roth für diesen Roman die Schraube sogar noch ein wenig mehr angezogen hat als bei den vorher gegangenen. Im Radetzkymarsch wie in der Kapuzinergruft verfolgen wir die Geschichte einer Dynastie – nicht der kaiserlichen allerdings. Wir folgen zwei verschiedenen Zweigen der Trottas (bzw. eben von Trottas) durch die letzten Jahrzehnte Österreich-Ungarns (und Österreichs), bis diese Staaten wirklich zusammenbrechen und ihre treuen aber nicht gerade mitdenkenden Untertanen vor das Nichts der neuen Zeit stellen. In der Geschichte von der 1002. Nacht folgen wir vor allem dem Rittmeister und der Mizzi Schinagl, und auch das ‚nur‘ während rund zwei Jahrzehnten. Auch so stellt sich heraus: Unter der heiter-nostalgischen Rinde des Baumes ‚Kakanien‘ ist längst alles morsch. Am besten übersteht die Zeiten noch die ehemalige Prostituierte Mizzi, die zum Schluss zwar nicht, wie sie es gerne gehabt hätte, als Baronin mit ihrem Rittmeister zusammen lebt, aber immerhin als – zumindest in den dortigen Kreisen – angesehene Besitzerin einer Schaubude im Prater. Taittinger aber, der den Militärdienst quittieren musste, um den Skandal abzuwenden, der auf ihn zurollte, und dessen Güter zu wenig abwerfen für den aufwendigen Lebensstil in Wien, den er sich angewöhnt hat – Taittinger begeht Selbstmord. Und ob nun die Unter- und Halbwelt der kleine Diebe und Hehler, der Schmuggler und Fälscher (inkl. Der Geheimen – Polizisten, die in jenem Milieu schnüffeln sollten, aber allen als Polizisten bekannt sind) besser dran ist als die Aristokraten mit ihren aufwändigen Bällen und ihrem Standesdünkel bleibt bei Roth dahin gestellt. Die Unterschiede und Übergänge sind sowieso fließend.
Vergessen wir den Schah nicht. Er tritt ganz zu Beginn und ganz am Schluss auf – auf diese Weise eine Klammer bildend für die Ereignisse rund um Taittinger und Mizzi Schinagl. Seine Figur ist es, die den märchenhaften Ton einbringt (den man dann für den Rest des Romans im Ohr behält, obwohl der dann im Grunde genommen sehr realistisch vorgeht). Wie ein Potentat aus den Erzählungen aus tausendundeiner Nacht fasst er zu Beginn den Entschluss, nach Wien zu gehen, weil ihn – seine Frauen sexuell langweilen. Als Märchenpotentat handelt er dann auch noch, wie er in Wien unbedingt mit der Gräfin W. eine Nacht verbringen will, nachdem er sie flüchtig an einem Hofball gesehen hat. Taittinger, zu der Zeit noch im Vollbesitz seiner Entschlusskraft und seines Witzes, schiebt ihm die Mizzi Schinagl unter, die seiner Meinung nach der Gräfin gleicht wie ein Ei dem anderen. Diese Entschlusskraft, dieser Witz, wird ihm im Laufe der Ereignisse abhanden kommen – ebenso wie er wohl nach Roths Ansicht in der gleichen Epoche der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie verloren gegangen ist. Der von ihr provozierte Erste Weltkrieg war dann wohl nichts anderes als der Selbstmord dieses Staats.
Vergessen wir den Schah nicht, denn er tritt auch am Ende noch einmal auf. Obwohl mehr als zwanzig Jahre seit seinem ersten Besuch in Wien vergangen sind, hat man bei der Lektüre des Schlusses den Eindruck, dass in Persien bedeutend weniger Zeit verfloss. Wohl wurde ein Teil seines Hofstaats ausgewechselt, wohl hat er nun keine unbefriedigten sexuellen Bedürfnisse mehr (seit einiger Zeit befindet sich eine junge Inderin in seinem Harem), aber wenn man den Schluss so liest, verspürt man kaum, dass in Persien (und damit im Roman) überhaupt Zeit verflossen ist seit 1880. So spiegelt sich im Ende des Romans wohl das Lebensgefühl, das Roth generell für ‚Kakanien‘ festmacht: Die Zeit ist dort stehen geblieben. Was beim Schah keine Rolle spielt – weil er ja eine Märchenfigur ist –, hatte für den realen Staat disaströse Folgen.
Zu Unrecht ist dieser Roman in Vergessenheit geraten, vielleicht auch, weil er erst im Dezember 1939 (also nach Roths Tod) in einem niederländischen Verlag publiziert wurde, und so wohl – in Anbetracht des Umstands, dass die Niederlande ein halbes Jahr später vor Nazideutschland kapitulieren musste – nicht mehr sehr viele Leser:innen gefunden haben kann. Aber er ist auf jeden Fall lesenswert. Und auch bedeutend weniger ‚verkopft‘, als ich es jetzt hier geschildert habe.