Volker Reinhardt: Montaigne. Philosophie in Zeiten des Krieges

Augenpartie aus einem Portrait von Montaigne. - Ausschnitt aus dem Buchcover.

Laut Verlagswerbung will Volker Reinhardt, anders als alle bisherigen Biografien zu Montaigne, nicht den Mann aus seinen Essais schildern, sondern die Essais aus dem (politischen) Leben des Mannes beurteilen. Politik aber gab es zu Montaignes Zeit jede Menge – der Bürgerkrieg zwischen Katholiken und Protestanten (die so genannten Hugenotten-Kriege, 1562-1598) spaltete Frankreich de facto in zwei Teile. Montaigne selber erlebte fünf französische Könige, von denen einige sehr schwache Persönlichkeiten waren. Vor allem die Söhne der Katharina von Medici stellten mehr oder weniger nur Puppen in der Hand ihrer erzkonservativ-katholischen Mutter dar. Diese richtete ‚ihre‘ Regierung ganz offen an den von Machiavelli propagierten Maßstäben aus und zerbrach verschiedene Male friedliche Momente oder Toleranzedikte, weil es im Moment opportun erschien. Montaigne war selber konservativ und katholisch, gehörte aber dem gemäßigten Flügel an, der sich um einen Ausgleich mit den Hugenotten bemühte. Die Hugenotten-Kriege endeten erst unter Henri IV – aber da war Montaigne schon seit sechs Jahren tot. (Nicht nur politisch war Montaigne konservativ. Er stellte sich sowohl gegen die neuen astronomischen Erkenntnisse eines Kopernikus wie gegen die Korrektur des julianischen Kalenders unter Papst Gregor XIII., dem er noch ein Jahr zuvor in Rom die Füße geküsst hatte …)

Montaignes ganzes Erwachsenenleben stand also mehr oder weniger im Schatten eines Krieges, der auch sehr reell über ihn und seine Leute einbrechen konnte. Es war eine Zeit, in der man dem Nachbarn nicht trauen konnte – ja, dem eigenen Bruder nicht (der radikaler Hugenotte geworden war). Der Tod stand ihm ständig vor Augen. Und war es nicht der Krieg, so drohte die Pest, die ihn sogar eine Zeitlang von Schloss Montaigne vertrieb.

Volker Reinhardt ist von Haus aus Historiker; er hat einen Lehrstuhl für Allgemeine und Schweizer Geschichte der Neuzeit an der Universität Fribourg in der Schweiz inne und gilt als Experte für die (italienische) Renaissance und die Geschichte des Papsttums. Außer einer Geschichte der Schweiz finde ich keine größeren Publikationen, die die beiden Wörter Schweizer Geschichte in der Bezeichnung seines Lehrstuhls rechtfertigen würden; hingegen ist er als Autor diverser Biografien (Voltaire, da Vinci, Luther, de Sade, Machiavelli und jetzt eben Montaigne) in Erscheinung getreten.

Der Historiker scheint denn auch bei dieser Biografie an allen Ecken und Enden durch. In vieler Hinsicht haben wir hier eine Geschichte der Hugenotten-Kriege aus dem Blickwinkel der Stadt Bordeaux, der umliegenden Landedelleute und vor allem Montaignes vor uns. In Bezug auf Montaigne entwickelt Reinhardt daraus das Bild eines Menschen, der zwar immer wieder in seinen Essais sich selber als einen Mann ohne politische Ambitionen, dafür von großer Faulheit zeichnet, in Tat und Wahrheit aber (zumindest, wenn und wo er es wirklich wollte) Energie und Ambition an den Tag legen konnte. Zu diesen Ambitionen gehörte der Aufstieg aus dem Kaufmannsstand seines Vaters und Großvaters in den Adel, den er schließlich auch schaffte. Schon vorher aber zeichnete er von sich in seinen Essais das Bild eines, der aus einer alt-adligen Familie zu stammte. Reinhardt fragt sich zu Recht: Wozu? Denn die Essais waren zu Beginn eine nur lokal bekannte Publikation; in und um Bordeaux wussten aber wohl alle, wer Michel de Montaignes Vater und Großvater gewesen waren und dass er sich als erster (und einziger, wie sich zeigen sollte, er hatte keine männlichen Nachkommen) de Montaigne nannte – schon lange vor einer offiziellen Legitimation. Vor allem seine politischen Ambitionen aber musste er, nach Reinhardt, doch recht klein halten: Sein Versuch, als Vermittler zwischen Katholiken und Hugenotten zu wirken, wurde praktisch schon im Keim erstickt, und als Henri IV ihn an den Hof in Paris ziehen wollte, fühlte er sich schon zu alt und zu krank, um der Einladung noch Folge zu leisten.

Als Literaturwissenschaftler kann ich Reinhardt hingegen nicht uneingeschränkt empfehlen. Dass er Widersprüche zwischen Schreiben (den Essais) und Handeln aufzeigt, ist so weit gut und interessant. Dass er aber – je nachdem es in seine Agenda passt oder nicht – mal einen Satz als Verschleierungstaktik identifiziert, mal aber darin eine Tatsache (= „die Wahrheit“) ausgedrückt sieht, halte ich für problematisch. Auch ist oft, was er für die Lösung eines Rätsels hält, nur ein weiteres Rätsel. Am deutlichsten tritt dies zu Tage, wenn es um das Tagebuch von Montaignes Badereise geht. Da ist der erste Teil in der dritten Person abgefasst, und die übliche Interpretation ist es, dass Montaigne diesen Teil einem Sekretär diktiert hatte, um später die Niederschrift selber zu übernehmen. Aus dem Umstand, dass im angeblich einem Sekretär diktierten Teil Dinge recht intime Dinge (vor allem Montaignes Verdauung betreffend, die ihn zu der Zeit stark beschäftigte) stehen, die Montaigne, so Reinhardt, kaum einem Fremden diktiert haben dürfte. Abgesehen davon, dass ‚Intimität‘ (was Reinhardt wissen dürfte) zu jener Zeit noch anders definiert wurde als heute, und abgesehen davon, dass die Original-Handschrift bereits wieder verschwunden ist und wir keine Möglichkeit haben, an Hand eben der Handschrift zu kontrollieren, ob hier eine oder zwei Personen geschrieben haben, wird mit Reinhardts ‚Lösung‘ dieses Tagebuch nur noch rätselhafter. Wozu sollte diese literarische Taktik dienen? Nach seiner Rückkehr legte Montaigne das Manuskript in eine Truhe. Dort blieb es rund 100 Jahre unbemerkt liegen; sein Verfasser kümmerte sich nicht mehr darum. Und dies, nachdem er sich die Mühe gegeben haben soll, einen Schreiber zu fingieren, fingiert zu entlassen und ‚selber‘ weiter zu schreiben? So etwas wäre bei Montaigne nicht unmöglich, das gebe ich zu. Aber als Lösung eines literarischen Rätsels ist es unbefriedigend. Rechnete Montaigne etwa insgeheim mit einem viel späteren Publikum, das seinen literarischen Tricks (auch z.B. der ‚Fälschung‘ seines Adels) folgen würde, folgen müsste, weil ihm die Möglichkeiten einer Nachprüfung fehlte und weil es wohl auch auf Grund des allgemeinen Inhalts seiner Schriften auf ein allzu genaues Eingehen auf seine tatsächlichen Lebensumstände verzichten würde? Falls es dies war, müsste man ihm zugestehen, dass er Recht behalten sollte.

Alles in allem ist diese Biografie gut geschrieben. Reinhardt folgt der Chronologie von Montaignes Leben und Karriere (oder eben auch Nicht-Karriere) als Jurist und als Politiker. Als der konfessionelle Bürgerkrieg auch in und um Bordeaux virulent geworden ist und Montaigne mit der Abfassung seiner Essais beginnt, vergleicht Reinhardt in den diese Zeit beschreibenden Kapiteln 3 und 5 (Der Edelmann als Schriftsteller / Bürgermeister von Bordeaux und ehrlicher Makler) Montaignes Leben mit den Reflexionen über sie und über sich selber, die er in seinen Essais anstellt. Die Einleitung trägt den Titel Schreiben gegen die Gewalt, und das ist auch der Gesichtspunkt, aus dem Reinhardt Montaignes Leben und Schreiben schildert. Endnoten, Literaturangaben, Bildnachweise und Personenregister vervollständigen das Buch aufs Beste.


Volker Reinhardt: Montaigne. Philosophie in Zeiten des Krieges. Eine Biographie. Mit 23 Abbildungen und 2 Karten. München: C. H. Beck: 2023.

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