Wir erinnern uns: Am Ende von Sodom und Gomorrha wurde erzählt, wie der Ich-Erzähler mit Albertine in einem Anfall von Eifersucht von heute auf morgen Balbec verließ, weil er fürchtete, seine Freundin würde in Balbec auf frühere schlechte Gesellschaft stoßen. (Lies: Lesbische Gespielinnen von anno dazumal wiedersehen und ihre lesbischen Beziehungen wieder aufnehmen.) In La prisonnière folgte als eine Art Kammerspiel eine Schilderung von deren Leben in Paris. Am Ende des ersten Teils will Albertine unbedingt an einer Abendgesellschaft von Mme Verdurin teilnehmen. Das erregt erneut die Eifersucht des Ich-Erzählers, der zwischendurch bereits wieder das Interesse an Albertine verloren hatte: Wen will sie dort treffen? Er arrangiert es so, dass sie stattdessen mit Andrée ins Trocadéro geht. Kaum sind sie da und die Eifersucht des Ich-Erzählers beruhigt, erfährt dieser, dass eine Schauspielerin namens Léa an diesem Abend ebenfalls im Trocadéro sein wird – eine Frau, die als Lesbierin bekannt ist. In einer Hau-ruck-Übung schickt er die Bedienstete Françoise hin, um Albertine sofort nach Hause zu bringen. Das gelingt, der Ich-Erzähler ist wieder beruhigt und – geht nun seinerseits aus. Er will nämlich herausfinden, wen Albertine denn nun so dringend an Mme Verdurins Abendgesellschaft hat treffen wollen. Unterwegs trifft er auf den Literaturwissenschaftler Brichot und später auf Baron Charlus.
Hier geht nun der zweite Teil von La prisonnière nahtlos weiter (denn die Unterteilung in zwei Bände ist rein buchbinderischen Gründen geschuldet). Zunächst gibt das Verhalten Charlus’ dem Ich-Erzähler Gelegenheit, sich des langen und des breiten über die Homosexuellen im Allgemeinen, den Unterschied zwischen französischem inverti und deutschen homosexuel sowie Charlus’ ganz eigene Ausprägung dieser gleichgeschlechtlichen Neigung auszulassen. Dann folgt die einzige Schilderung einer Abendgesellschaft in diesem Buch. Charlus nämlich hat seinen Protegé, den Violonisten Morel, in den er verliebt ist, überredet, an einer Gesellschaft bei Mme Verdurin die innerhalb des Romans berühmte und immer wieder erscheinende Sonate von Vinteuil zu spielen. Dafür hat er sich mit Mme Verdurin so arrangiert, dass diese ihre üblichen Stamm einlädt, während er, Charlus, sich darum kümmert, dass seine aristokratischen Bekannten ebenfalls erscheinen. In der Theorie könnten alle dabei gewinnen: Morel wird in weiteren, einflussreichen Kreisen bekannt, Charlus gewinnt an Renommee als Mäzen und Mme Verdurin könnte ihren Stamm um einige aristokratische Mitglieder erweitern. Zum ersten Mal in der Suche nach der verlorenen Zeit erleben wir nun aber einen Abend, der komplett schief läuft. Das liegt vor allem am schlechten Benehmen der anwesenden Adligen. Nicht nur, dass sie unter sich bleiben – bei ihrer Ankunft begrüssen sie nur Charlus als Gastgeber und verabschieden sich zum Schluss auch nur von ihm. Mme Verdurin wird geschnitten, ja ein paar können sich nicht enthalten, bösartige Bemerkungen über sie zu machen – in ihrer Hörweite. (Mitten im sich abzeichnenden Sturm gelingt es dem Erzähler, eine längere Meditation über das Wesen der Musik zu setzen.) Aus Rache setzt Mme Verdurin einen Plan um, mit dem sie schon länger schwanger ging. Es störte sie nämlich, dass Morel sozusagen nur ‚mit Charlus‘ zu haben war, und das will sie nun ändern. Dafür ordnet sie ihren Mann ab, der dem Violonisten unter vier Augen nicht nur dieselben öffnet für Charlus’ homosexuelle Avancen, sondern den Baron auch noch weiter verleumdet. Der Kleinbürger Morel gerät in Panik, und als er Charlus’ wieder ansichtig wird, schreit er ihm seinen ganzen Hass und Ekel ins Gesicht. Charlus ist für den Moment schachmatt gesetzt.
Wie diese Geschichte weiter geht, wird nur in ein paar kurzen Sätzen angedeutet, denn nun kehrt der Ich-Erzähler nach Hause zurück. Er hat erfahren, was er erfahren wollte. Zu Hause brennt bei Albertine noch das Licht. Irgendwie möchte der Ich-Erzähler mit ihr über ihre Neigungen reden, aber das Gespräch läuft aus dem Ruder, die beiden geraten in Streit. Der Ich-Erzähler findet in ihren Sätzen jede Menge früherer Lügen, die Albertine jetzt aufdeckt – lügt sie aber selber an, indem er tut, als überlege er sich nun wirklich eine Trennung, nachdem sie sich offenbar beide (denn das ist ihm unterdessen aufgegangen) als Gefangene in dieser Beziehung fühlen. Für dieses Mal kann er mit dieser Lüge noch eine Versöhnung herbei führen. Abermals überschüttet er sie mit Geschenken, und sie bleibt nun auch ganz, ganz brav. Das führt aber beim Ich-Erzähler erneut dazu, dass ihm die (seiner Meinung nach definitiv gezähmte) Frau langweilig wird und er sich abermals eine Trennung überlegt. Dieses Mal aber kommt ihm Albertine zuvor. Als der Ich-Erzähler eines Morgens nach dem Aufwachen nach Françoise klingelt, teilt ihm diese mit, dass die junge Frau vor zwei Stunden ihre Koffer verlangt und gepackt hätte. Sie hat das Haus verlassen.
Alors – tant on peut ignorer ce qu’on a en soi, puisque j’étais persuadé de mon indifférence pour Albertine – je tins mon cœur de mes deux mains, brusquement mouillées par une certaine sueur que je n’avais jamais connue depuis la révélation que mon amie m’avait faite dans le petit tram relativement à l’amie de Mlle Vinteuil […]
Zwei Dinge fallen auf in bzw. nach diesem Buch V. Da sind zum einen die Abendgesellschaften, die Proust schildert. Zu Beginn finden sie in zwei gesellschaftlich streng von einander geschiedenen sozialen Schichten statt. Wir erleben zunächst noch Charles Swann und Odette de Grécy in den frühen Gesellschaften der bürgerlichen Mme Verdurin. (Einer der Gründe, warum Proust den Abschnitt Un amour de Swann eingefügt und in der dritten Person berichtet hat, war ja genau der, dass er so die Gesellschaft schildern konnte, wie sie gefügt war noch vor der Geburt des Ich-Erzählers.) Dann schauen wir dem Ich-Erzähler zu, wie er auf immer etwas höherer Ebene an drei Abendgesellschaften der Aristokratie teilnimmt. (Der Ich-Erzähler übernimmt nun von Swann die Rolle des Zwischengängers und -glieds zwischen Großbürgertum und Adel.) Zurück bei Mme Verdurin erleben wir dann, wie zunächst nur ein paar wenige Adlige, sozusagen versuchsweise, in den (unterdessen definitiv großbürgerlich gewordenen) Kreis um sie einbezogen werden. Im vorliegenden Band schließlich scheitert ein erster Versuch, die Unterschiede ganz aufzuheben, grandios am Dünkel des Adels. Dennoch können wir festhalten, dass bei aller Zeitlosigkeit, die in der Suche nach der verlorenen Zeit zu herrschen scheint, doch wichtige und interessante gesellschaftliche Entwicklungen stattfinden.
Was man auf einer persönlichen Ebene nicht sagen kann. Erst in La prisonnière fällt das richtig auf. Bisher waren die Schilderungen der merkwürdigen Verhaltensmuster des Ich-Erzählers gegenüber seinen Geliebten (Gilberte wie Albertine) immer nur kurze Blitzer in einem größeren, gänzlich verschiedenen Kontext. In diesem Buch konzentriert sich Proust zum ersten Mal fast völlig darauf. Dass das Verhalten des Ich-Erzählers krankhaft ist, muss auch schon zu Prousts Zeit jedem klar gewesen sein. Jedem, außer Proust? Tatsächlich haben wir hier eine seltsame, ja erschreckende Erzählsituation vor uns. Wir haben gesehen, dass bei den Schilderungen zum Beispiel der gesellschaftlichen Anlässe im Grunde genommen drei verschiedene Ich-Erzähler unterschieden werden können. Da ist der junge Mann, der gerade erlebt, was erzählt wird. Da ist ein offenbar allwissender Ich-Erzähler (literarisch gesehen eine contradictio in adjecto, weshalb man solche Momente Proust auch gern als Fehler anrechnet – ich für meinen Teil denke allerdings, dass es eher ein bewusstes Spiel Prousts war mit literarischen Konventionen), der uns Dinge berichtet, die er gar nicht wissen kann, weil sie im stillen Kämmerchen zwischen zwei Personen abliefen, von denen keine es ihm weiter erzählt hat. Last but not least gibt es, was ich den „älteren Ich-Erzähler“ genannt habe – einer, der vom Standpunkt des Endes des Romans aus auch schon mal ironisch das eine oder andere (und auch den jüngeren Ich-Erzähler!) kritisiert oder richtig stellt. Hier aber, wenn Proust die Beziehung zwischen dem Ich-Erzähler und seinen Geliebten schildert, ist jedes Mal nur der „junge Ich-Erzähler“ am Werk. Es fehlt jede Kommentierung und Einordnung des seltsamen Verhaltens des verliebten jungen Mannes – sofern hier von „Liebe“ die Rede sein kann … Das macht das aus, was ich bei einer ersten Lektüre von La prisonnière als „zäh“ empfand: der völlige Mangel an einer sonst durchaus gewahrten Distanz, den Proust hier vorführt.
Müssen wir daraus schließen, dass der Mensch Proust gut hieß, was der Autor Proust seinen Ich-Erzähler offenbar tel quel akzeptieren ließ? Ich weiß es nicht – der Ich-Erzähler ist mir in La prisonnière mehr denn je zum Rätsel geworden.