Buch VI der Suche nach der verlorenen Zeit existiert auf Französisch in sechs verschiedenen Versionen unter zwei verschiedenen Titeln. Das liegt daran, dass es dieses Buch war und nicht das abschließende siebte, das Proust zuletzt noch überarbeitete, über dieser seiner Arbeit aber verstarb. Da weder er noch sein Verlag Ordnung in ihren Papieren hielten, fanden die Nachlassverwalter von Buch VI zunächst nur den Durchschlag des Typoskripts vor. Im Wissen darum, dass der Autor diesen Text aber noch einmal gründlich bearbeitet hatte, beschloss man offenbar, diese Bearbeitung selber zu rekonstruieren. So erschien das Buch dann auch 1924. Da im Team der Bearbeiter auch Prousts jüngerer Bruder Robert steckte, wurde allerdings schon bald gemunkelt, er hätte dafür gesorgt, dass für die Familie allzu kompromittierendes Material gestrichen worden sei. Dazu kann ich nichts sagen; es erschien dann aber 1954 eine neue Version, in der die Tochter Robert Prousts dessen ärgsten Eingriffe rückgängig machte. Erst 1986 wurde das Original-Typoskript mit Prousts eigenen Änderungen gefunden, und ab 1989 erschienen Versionen in dieser Fassung. Weitere Änderungen sollten noch folgen. Mit den beiden Titeln ist es eine andere Geschichte. Ursprünglich sollte Buch VI als Teil von Buch V erscheinen; das war aber auf Grund des Umfangs technisch nicht möglich. Die Idee, Bücher V und VI als zu Buch IV (Sodome et Gomorrhe, selber als I und IIerschienen) gehörig zu markieren, indem man sie mit Sodome et Gomorrhe III oder gar III und IV bezeichnete, wurde rasch verworfen und Proust legte sich fest auf La prisonnière und La fugitive. Dann erschien 1922 der Roman The Fugitive des Nobelpreisträgers für Literatur Rabindranath Tagore auf Französisch – unter dem Titel La fugitive. Proust wollte offenbar jede Verwechslungsgefahr vermeiden und änderte den Titel von Buch VI in Albertine disparue. Heute (und offenbar schon 1954, als Buch VI zum ersten Mal als La fugitive verkauft wurde) sind Tagores Roman ebenso wie der Nobelpreisträger selber vergessen. Da Proust bis zu seinem Tod von Buch VI nur noch als Albertine disparue gesprochen hat, tragen konsequenterweise alle neueren französischen Ausgaben wieder diesen Titel. Die erste deutsche Übersetzung orientierte sich offenbar an der gerade aktuellen französischen Ausgabe und hieß entsprechend Die Entflohene. Dass sich bei der Neuausgabe der neue Übersetzer profilieren musste und einen neuen Titel finden (nämlich Die Flüchtige) gehört zu jenen seltsamen literarischen Spielchen, die jeder Nicht-Fachperson die Orientierung im Dschungel der ‚klassischen Literatur‘ nur unnötig erschweren und auch dann verboten werden sollten, wenn die erste (oder bekannteste) Übersetzung falsch gewesen sein sollte, wie dies im Falle von Dostojewskis Schuld und Sühne behauptet wird (ich kann kein Russisch).
Ich gebe zu, dass der später von Proust gewählte Titel mit seinem Wortspiel praktisch unübersetzbar ist. ‚Disparaître‘ und vor allem das Partizip ‚disparu‘ ist nämlich doppeldeutig. Einerseits bedeutet es ganz einfach ‚verschwinden‘ – und verschwunden ist Albertine ja zunächst für den Ich-Erzähler am Ende von Buch V. Allerdings ist ‚disparu‘ auch ein Euphemismus für ‚tot‘, in der Stil-Lage im heutigen Französisch ungefähr zwischen den deutschen Äquivalenten ‚verstorben‘ und ‚von uns gegangen‘. Denn im Verlauf von Buch VI erfährt der Ich-Erzähler ja vom Tod seiner Albertine. Ohne zu behaupten, dass wir hier einen autofiktionalen Text vor uns haben, bin ich doch davon überzeugt, dass für Buch VI der Tod 1914 des einstigen Sekretärs, Chauffeurs und Geliebten von Proust, Alfred Agostinelli, eine wichtige Rolle spielt. Nicht, weil Alfred und Albertine einander gleich zu setzen wären – obwohl es Parallelen gibt: So, wie sich Proust überlegte, für den passionierten Flieger Alfred ein Flugzeug zu kaufen, so überlegt sich der Ich-Erzähler, Albertine eine Jacht und einen Rolls-Royce zu kaufen. Und wenn der Ich-Erzähler in Buch V davon berichtet, wie er beinahe einen Reitunfall gehabt hätte, als ein Flugzeug nicht sehr hoch über ihn und sein Pferd hinweg geflogen sei, so stellt das tatsächlich einen Punkt dar, an dem sich die ‚Lebenslinien’ von Alfred und Albertine kreuzen: Alfred wird mit dem Flugzeug abstürzen, Albertine bei einem Reitunfall ums Leben kommen. Daher konnte weder Proust das Flugzeug für Alfred kaufen, noch der Ich-Erzähler Jacht und Rolls-Royce für Albertine.
Wichtiger als diese Übereinstimmungen aber ist meiner Meinung nach, dass Alfred Agostinellis Tod Proust vor Augen führte, dass er einen endgültigen Verlust des oder der Geliebten durch Hinschied bei der Erzählung der Ereignisse nach dem Tod der Großmutter viel zu flüchtig behandelt hatte. In Buch VI nun verfolgt er alle Phasen der Trauer in ihren Verästelungen – bis hin zum Moment, wo die Trauerarbeit abgeschlossen und der oder die Geliebte vergessen ist (oder, wie es der Ich-Erzähler ausdrückt: wo Albertine zwar noch in ihm lebendig ist, aber in einem so abgelegenen und abgeschlossenen Winkel seines Wesens, dass er keinen Zugriff mehr auf sie hat). Diese Schilderungen entschädigen für die auch in Buch VI noch vorkommenden Versuche des Ich-Erzählers, mehr über Albertines ‚lasterhaftes Leben‘ zu erfahren. Er schickt dafür Robert de Saint-Loup und den ehemaligen Hoteldirektor Aimé in alle Himmelsrichtungen – nur, um aus ihren Berichten neue Eifersucht und neuen Schmerz zu schöpfen. Erst ganz zum Schluss der Trauerarbeit, als die Geschichte mit Albertine langsam wirklich abgeschlossen ist, wird ihn Andrée darauf hinweisen, dass vieles von dem, was man ihm erzählt hat, auch nur erzählt worden sein könnte, weil man dachte, es wäre, was er erwartete, und dass Albertine ganz einfach nur geflohen sei, weil ihre Mutter sich keine Chance mehr ausrechnete, dass er die junge Frau, die da seit langem nun bei ihm wohnte, heiraten würde, und sie ihre Tochter immer mehr kompromittiert sah. Selbst in dieser Geschichte ist bei Proust nicht alles so, wie es auf den ersten Blick scheinen mag.
Im Übrigen sehen wir zum Schluss – und dies als Überleitung zum abschließenden VII. Buch – wie die Gesellschaftsschichten, die zu Beginn der Suche nach der verlorenen Zeit noch hermetisch von einander geschieden waren und wo nur wenige Ausnahmemenschen bürgerlicher Herkunft, wie Swann und später der Ich-Erzähler, Zutritt zu Adelskreisen fanden, wie diese undurchlässigen Grenzen also löchrig zu werden begannen. Da trifft der Ich-Erzähler zunächst auf seine Jugendliebe Gilberte Swann. Nur, dass sie nicht mehr so heißt. Nach dem Tod Swanns hat ihre Mutter dank ihres nicht unerheblichen Vermögens einen M. de Forcheville geheiratet, der wiederum Gilberte adoptiert hat. Als nunmehr adlige Mlle de Forcheville, und durch eine andere Erbschaft von Vaters Seite her reich, ist sie plötzlich eine äußerst gesuchte Partie für den Hochadel. Ihr Preis dafür, den sie offenbar gerne und ohne zu zögern zahlt, ist der Umstand, dass sie und alle um sie herum ihren bürgerlichen (und jüdischen!) Vater komplett verdrängen. Am Ende von Buch VI erfahren wir, dass sie Robert de Saint-Loup heiraten und später gar zur Duchesse de Guermantes aufsteigen wird. Der Preis dafür wiederum ist, dass sie die außerehelichen Eskapaden Roberts toleriert. Was sie aber, im Gegensatz zum Ich-Erzähler, am Ende von Buch VI noch nicht weiß: Robert de Saint-Loup betrügt sie nicht mit jenen Frauen, die er aller Welt ostentativ als seine Geliebten präsentiert, sondern er hat in der Zwischenzeit seine homosexuelle Ader entdeckt und ist gerade mit niemand anders als Charlie Morel liiert. An diesem wiederum hat sich sein Onkel, der Baron de Charlus, für seine Bloßstellung gerächt, indem er die junge Nichte von Jupien adoptiert hat, die Morel heiraten wollte. Nunmehr unerreichbar für Morel und mit einem Adelstitel ausgestattet sowie einer reichlichen Mitgift, ist auch sie zu einer guten Partie für den Hochadel geworden. (Hier zeigt der Text allerdings eine große Schwäche, und ich vermute, Proust hätte das noch korrigiert – falls er es überhaupt selber so geschrieben hat: Zwei Mal in so kurzer Zeit eine Adoption ist, selbst wenn es in der Realität so vorgekommen wäre, für eine Fiktion zu viel des Guten. Auch weiß Proust mit der zweiten jungen Dame nichts mehr anzufangen, sondern lässt sie kurz nach ihrer Eheschließung – an einer Seuche sterben.)
Schließlich möchte ich noch den Ausflug nach Venedig erwähnen, den der Ich-Erzähler nun endlich, zusammen mit seiner Mutter, unternehmen wird. Einmal mehr beweist sich Proust dabei als Reiseerzähler erster Güte. Es ist schade, hat er nicht mehr solche Szenen in die Suche nach der verlorenen Zeit eingefügt. Wie er die Streifzüge des Ich-Erzählers durch Venedig – zu Fuß oder in einer Gondel – beschreibt, die Eindrücke die die Renaissance-Fassaden auf den immer noch jungen Mann machen, muss man unbedingt gelesen haben. Leider lässt Proust aber auch hier Albertine noch einmal in den Geisteshaushalt seine Erzählers eindringen und zerstört die Stimmung.
Fazit: Man meint, das Fragmentarische, Unfertige, dieses Buchs bei der Lektüre zu spüren. Schade, dass Proust nicht mehr Zeit hatte, es zu überarbeiten. (Allerdings habe ich – meine Ausgabe stammt ja von 1949 – die allererste Version gelesen. Vielleicht hat Proust da schon einiges im Original-Typoskript geändert. Aber ich finde, dass man ein Buch in der Fassung lesen sollte, in der es zuallererst aufs Publikum getroffen ist – weil die meist die wirkungsmächtigste gewesen ist.)