Zaza (wie sie Simone de Beauvoir nannte), ihr Leben und vor allem ihr Tod, haben die Autorin lange Jahre beschäftigt. Zaza hieß mit bürgerlichem Namen Élisabeth Lacoin und stammte aus einer wohlhabenden katholischen Familie, während die wenige Tage jüngere Simone de Beauvoir aus einer Familie stammte, in der es als normal galt, dass der Vater (und die Söhne) sich als Agnostiker verstanden, die Frauen aber dem üblichen frommen Katholizismus anhingen. Zaza und Simone lernten sich als Neunjährige kennen. Zunächst Rivalinnen um den Platz der Klassenbesten, befreundeten sie sich bald – dies umso mehr, also Zaza offenbar keinen Wert auf schulische Auszeichnungen legte, ganz im Gegensatz zu Simone. Dennoch haben sie sich offenbar ihr Leben lang (Zazas Leben lang) gesiezt. Zaza stand schon als kleines Kind unter dem Druck, ein anständiges Mädchen aus katholischem Haus sein zu müssen, das (quasi bei der Geschlechtsreife) anständig katholisch verheiratet werden musste, um viele Kinder zu haben, die dann ihrerseits … Von Simone wurde nichts derartiges erwartet. Es war von Anfang an klar, dass sie eine Ausbildung machen würde. Müsste, denn ihr Vater (ursprünglich auch nicht unvermögend) hatte nach dem Ersten Weltkrieg praktisch alles verloren – teils in der Inflation, teils, weil er sein Geld in russischen Staatspapieren angelegt hatte.
Dies sind die Voraussetzungen des Romans – Voraussetzungen, die man nur durch das Vorwort erfährt, das Simone de Beauvoirs Adoptivtochter, Sylvie Le Bon de Beauvoir, dem Text beigegeben hat, als sie ihn 2020 veröffentlichte. Es handelt sich um einen so genannten autofiktionalen Text, das heißt, die Ereignisse aus Simones und Zazas Leben werden nur wenig verschleiert geschildert.
Nun hat es meiner Meinung nach meist einen guten Grund, wenn Autor:innen einen an und für sich fertig geschriebenen Text in die Schreibtischschublade zurücklegen, dort einschließen und nie mehr hervorholen. Genau das hat nämlich de Beauvoir getan – der Text stammt aus dem Jahr 1954. Sie sollte auf Zazas Geschichte noch einmal zurückkommen, im ersten Teil ihrer Autobiografie Memoiren einer Tochter aus gutem Haus (1958), von nicht publizierten früheren Versuchen ganz abgesehen. Zaza wurde für Simone nicht nur eine persönliche Wunde im Fleisch, sondern auch zu einer paradigmatischen Figur – einer Frau, die von der Gesellschaft, von der Familie, der katholischen Religion und Kirche so lange zurecht gedrückt wird, bis sie entweder ihr Schicksal als fromme Familienmutter akzeptiert, oder, wie Zaza, daran zu Grunde geht.
Doch zumindest in diesem Roman von 1954 wollte de Beauvoir mehr als sie konnte. Die Geschichte wird in zwei Kapiteln erzählt, wovon das erste Kindheit und Jugend der beiden Freundinnen erzählt, das zweite das frühe Erwachsenenleben – ein kurzes Leben, was Zaza angeht. Aber der Roman ist sowohl als Roman wie als Autobiografie missglückt. Simone de Beauvoir gelingt es nicht, in der Ich-Erzählung Zazas Charakter, den ihrer Familie (und vor allem ihrer Mutter!) so darzustellen, dass wir ihren Tod, wie von der Autorin wohl geplant, als unumgängliche Konsequenz der Unterdrückung ihrer Sexualität und ihrer eigenen Wünsche begreifen können. Wir bleiben dort stehen, wo das Ich, wo Simone de Beauvoir, Zaza voll Erstaunen und manchmal Bewunderung mehr oder weniger von außen betrachtet. Das wäre als Autobiografie nun zwar möglich, aber für eine Autobiografie erfahren wir zu wenig von diesem Ich. Es teilt zum Beispiel der Freundin eines Tages aus heiterem Himmel mit, dass es nicht mehr an Gott glaube. Innere Kämpfe einer Simone, die offenbar ursprünglich eben so fromm war wie ihre Freundin Zaza? Offenbar nicht. Aber wenn das erste Kapitel immerhin noch den Versuch einer Schilderung enthält, wie die Ich-Erzählerin sich mit ihrer Liebe zu Zaza auseinander setzt (wobei sie dann allerdings mit Tonfall und der Manie plötzlicher, eingebungsartiger Einsichten in die Psyche anderer, zum Beispiel Zazas Mutter, sehr an das Ich von Prousts Suche nach der verlorenen Zeit erinnert), erzählt der zweite Teil praktisch ausschließlich von Zaza, vor allem ihrer (eigentlich erwiderten) Liebe zu Pascal. Pascal wiederum ist das Pseudonym für Maurice Merleau-Ponty, seinerseits schon damals stockkatholisch. Diese Liebe scheitert daran, dass beide ihren Eltern (Zaza ihrer Mutter, Pascal seinem Vater), und damit den gesellschaftlichen Konventionen, mehr gerecht werden wollen als ihren Geliebten. Dass dies aber in der Ich-Form erzählt wird, berührt seltsam, denn dieses Ich (außer dass wir erfahren, dass es ein Studium der Philosophie an der Sorbonne aufgenommen hat) weist im zweiten Kapitel des Romans praktisch kein eigenes Leben mehr auf. Wir finden im Anhang des Buchs auch Fotografien der beiden Freundinnen und von Briefen der beiden. Darin erwähnt Simone auch ganz selbstverständlich Jean-Paul Sartre und zeigt sich auch mit ihm; im Roman ist das Privatleben der Ich-Erzählerin ein weißer Fleck. Als Lesende brauchen wir aber in einem Roman keine Ich-Erzählerin, wenn diese dann keine Rolle spielt. Simone de Beauvoir muss die Mängel ihres Buchs gespürt haben, wollte den Roman aber wohl nicht vernichten, weil sie das Schicksal ihrer Freunden allzu sehr beschäftigte.
Fazit: Ich habe natürlich schon Schlimmeres gelesen. Zusammen mit dem Vorwort, dem Anhang mit Fotografien und weiteren Kenntnissen aus Simone de Beauvoirs Leben ist der Roman auch heute noch interessant. Vor allem, was die Stellung der Frau im christlich-religiösen Kontext betrifft, haben die Ein- und Ansichten (der Männer) in konservativen Kreisen bis heute nicht geändert. Die Indoktrination, die auch und gerade in protestantischen und ‚esoterischen‘ Sekten stattfindet, ist um kein Haar besser oder anders als die, an der Zaza zu Grunde ging. Und diese Form von Unterdrückung existiert auch im 21. Jahrhundert noch.