Nineteen Eighty-Four, dieser Roman George Orwells, wird seit 75 Jahren regelmäßig erwähnt, wenn es um Unterdrückung von Menschenrechten durch Diktaturen geht. Oder auch durch so genannte Demokratien. Er erklimmt deswegen immer mal wieder die Spitze der Bestseller-Listen. In jenem Moment, als der Whistleblower Edward Snowdon die Überwachungspraktiken des US-amerikanischen Geheimdienstes aufdeckte, stieg es hoch auf, und als in der Trump-Administration das Wort „alternative Fakten“ aufkam, stieg es in den USA sogar auf Platz 1. Die Verkaufszahlen stiegen erneut um 75%, als Putins Russland seinen Angriffskrieg auf die Ukraine als „Befreiung“ derselben darstellte.
Wir sehen: Es sind zwei Punkte (oder Motive), die dem Roman zu Berühmtheit verhelfen: Die totale Überwachung der Bürger via spezieller Bildschirme, die die Partei ausübt, und das System des Newspeak, einer Sprache, die dem Doublethink zu Gute kommen soll, einer Art mentaler Technik, die es ermöglicht, zugleich eine Tatsache und deren Gegenteil denken zu können, eine Lüge als Wahrheit akzeptieren zu können. Beides sind Phänomene, die zwar nicht 1984, aber doch nur 20 bzw. 40 Jahre später prominent auf die Bühne der Weltgeschichte zurückkehrten. Diese beiden Motive entdeckt und verwendet zu haben, ist zweifellos das große Verdienst George Orwells, auch wenn heute diese totale Überwachung nicht (nur) vom Staat (totalitär oder nicht) ausgeht sondern auch und gerade von großen kapitalistischen Konzernen im Dschungel des vermeintlich freien Internet ausgeübt wird, und es heute nicht mehr stationäre Bildschirme sind, die uns im Griff haben, und auch nicht (nur) stationäre Überwachungskameras an allen Ecken und Enden sondern unser kleiner unentbehrlicher Begleiter in Form eines zum Taschencomputer mutierten Telefons und der dort (und übrigens auch auf dem stationären PC!) installierten Programme.
Es ist aber mindestens ebenso interessant zu sehen, dass – abgesehen von diesen beiden Motiven – die Handlung des Romans als solche kaum Erwähnung findet. Als Roman scheint 1984 nicht zu existieren. Verständlich, wie ich finde, denn der Roman ist als Roman (wie ich finde) schwach, sein Plot voller Löcher. Das der Geschichte als Grundlage dienende Phänomen waren die diversen Säuberungsaktionen, die Stalin damals der Kommunistischen Partei (nicht nur in der UdSSR) angedeihen ließ und die Orwell seinerzeit im Spanischen Bürgerkrieg aus nächster Nähe beobachten konnte, als die Kommunisten sich lieber in Faktionskämpfen verzettelten, als den gemeinsamen Feind Franco anzugehen. Die von Orwell in Oceania erwähnten Schauprozesse weisen ebenso darauf hin wie der Name des als Hauptfeindes eingeführten Emanuel Goldstein, der eindeutig auf den ursprünglichen Namen des lange Zeit als Hauptfeind des Stalinismus geltenden Leo Trotzki verweist: Leo Bronstein. Auch die Verfälschung der Geschichte, indem zum Beispiel Prognosen für den Dreijahresplan rückwirkend geändert und den tatsächlichen Resultaten angepasst wird oder ehemalige Parteigänger des Großen Bruders aus Fotografien heraus retuschiert, entspricht durchaus dem Vorgehen der kommunistischen Partei Russlands unter Stalin. Es wird, fürchtet Winston Smith, der Protagonist und Ich-Erzähler, eines Tages keine Geschichte mehr geben, weil immer schon alles so war, wie es ist. (Es scheint, und das ist eine der Schwächen des Plots, als sei Winston Smith der einzige Mensch – zumindest außerhalb des Zirkels der inneren Partei –, der sich zum Beispiel daran zu erinnern vermag, dass gestern noch Oceania mit Eurasia im Krieg war, und erst seit heute – nicht, wie die Propaganda wahr haben will: schon immer – mit Eastasia. Auch ist Smith eigentlich viel zu intelligent für ein kleines Würstchen der äußeren Partei.) Neben den beiden am meisten zitierten Punkten (Doublethink und die ständige elektronische Überwachung) ist dies eines der Hauptthemen, die Orwell anspricht.
Aber Orwell liefert viel mehr. Auch zu der sehr merkwürdigen gesellschaftlichen Struktur in Oceania beispeilsweise hat sich Orwell ausführliche Gedanken gemacht und die in einem – vermeintlich von Goldstein stammenden – Buch erklärt wird: Jede Gesellschaft – so Goldstein – besteht aus drei Schichten: einer Führungsschicht, einer mittleren Schicht derjenigen, die die Befehle der Führenden umsetzen und einer Unterschicht, die sich nur um ihr leibliches Wohlergehen kümmert – auch, weil sie in Armut lebt und das tägliche Brot deshalb nicht selbstverständlich ist. Diese Theorie wird auf die Gesellschaftsstruktur von Oceania angewendet: Da ist die innere Partei (weniger als 2% der Bevölkerung, nach Goldstein), die äußere Partei mit 12-13% und schließlich die Arbeiterklasse, hier Proles genannt, mit rund 85%. Diese Schichten sind im Prinzip durchlässig, das heißt, ein Auf- oder Abstieg ist theoretisch möglich. Die Proles werden mit billiger Schundliteratur, billigen Schlagern und billigen Filmen (darunter auch pornografischen!) still gehalten. Politisch tätig in einem weiteren Sinn sind nur die Mitglieder der Partei. Allerdings ist, wer Mitglied des äußeren Zirkels ist, auch nur Befehlsempfänger:in. Trotzdem werden diese Leute genaustens überwacht, während man zum Beispiel die Proles im Großen und Ganzen unbeaufsichtigt lässt. Die Mitglieder des äußeren Zirkels haben nicht nur lange Arbeitstage zu leisten sondern auch einen beträchtlichen Aufwand für ‚Freiwilligenarbeit‘. Sie kriegen miserables Kantinen-Essen und kleine Kabäuschen als Wohnung, die nach abgestandenem Kohl riechen. Bei der Arbeit ist Eigeninitiative äußerst unangebracht. Es bleibt für uns außenstehende Lesende die Frage, warum jemand diesem äußeren Zirkel angehören will. Der innere: ja – denn der kennt allen Luxus. Aber im Grunde genommen – jedenfalls so, wie Smith seinen Alltag schildert – haben die Angehörigen des Proles das freiere Leben als er.
Sie können zum Beispiel auch heiraten, wen und wann sie wollen, während der äußere Zirkel eine:n Partner:in zugeteilt erhält. Auch darf bei den Partei-Angehörigen Sex nur stattfinden zum Behuf der Zeugung; im Grunde genommen wird Männchen wie Weibchen schon früh eine Frigidität anerzogen. (Despotische Ideologien weisen tatsächlich diesen Zug von Prüderie auf. Hier weist Orwell auf etwas hin, das konsequent überlesen wird – kein Wunder, wenn praktisch die meisten Formen der nach wie vor einflussreichen monotheistischen Religionen des Abendlandes und des Nahen Ostens genau dasselbe predigen.)
Persönlich abgestoßen fühle ich mich übrigens bei jeder Lektüre (es war diese hier ja nicht die erste!) von der sehr ausführlichen Schilderung der Folterungen, die Smith erleiden musste. Auch dieser Teil von literarischem Sadismus (oder Masochismus?) in Nineteen Eighty-Four wird kaum je angesprochen.
Der Anhang mit Orwells Ausführungen zum Newspeak ist insofern interessant, als er linguistische, semiotische, ja (sprach-)logische Überlegungen der Zeit involviert und wohl auch karikiert. Auch darüber liest man wenig.
Fazit: Ich bin zwiegespalten. Als Roman ist Nineteen Eighty-Four nur bedingt geglückt, auch wenn es Orwell durchaus gelingt, die bedrückende Atmosphäre in einer diktatorischen Gesellschaft fühlbar zu machen. Gewisse kritische Punkte unserer aktuellen Welt hat er aber sehr gut vorher gesehen.
Ist vielleicht die Folge der ausführlichen Beschreibung der Folter, insbesondere des zum Gesicht passenden Rattenkäfigs, dass wir überhaupt 1984 als so herausragend sehen? Also uns überhaupt dieses Buchs erinnern, weil eben die Folterbeschreibung so markant ist?
Dann wäre aber unsere Sensationslust schuld, die der Leser:innen, nicht die des Autors?