So seltsam es klingen mag: Dies sind die ersten Texte von Romain Rolland, die ich in meinem Leben gelesen habe. Ich kannte natürlich den Namen und gewisse Eckpunkte seiner Biografie: Nobelpreis 1915 (als bereits dritter Franzose bei der vierzehnten Verleihung); einer der bekanntesten französischen Intellektuellen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts; bekannt vor allem durch den Roman Jean Christophe und das Manifest Au-dessus de la mêlée, das Rollands Position als Pazifist im Ersten Weltkrieg definiert; nicht zu vergessen der Briefwechsel mit Stefan Zweig. Aber auf die Gefahr hin, einige Leute zu vergraulen: Ich halte Zweig nicht für so wichtig, dass ich mich um seine Briefwechsel gekümmert hätte.
Autor:innen von Belletristik nicht zu lesen, weil man schon zum Vorneherein das Gefühl hat, die seien nichts für einen, ist natürlich eine Form von ‚self-fullfilling prophecy‘; man geht von Anfang an kritisch an deren Werk heran, wenn man dann trotzdem etwas von ihnen liest. Meine Taktik in solchen Fällen ist es, nicht mit einem belletristischen Werk den Einstieg zu suchen, sondern mit einem (im weitesten Sinn) theoretischen. Das funktioniert für mich verblüffend oft. Erst in zwei Fällen ist diese meine Taktik gescheitert: Bei Heimito von Doderer am Umstand, dass seine Essays sich vorwiegend mit den seltsamen Thesen des Paris von Gütersloh auseinandersetzten, die aber offenbar auf sein literarisches Werk so gar keinen Einfluss nahmen (oder jedenfalls keinen, der für einen durchschnittlichen Leser wie mich von Bedeutung wäre); bei Markus Werner an der Tatsache, dass dieser selbst in seinen theoretischen Werken, selbst in poetologischen Vorlesungen, sich nicht in die Karten schauen lässt, sein eigenes Vorgehen und Denken komplett bedeckt hält.
Und nun also die beiden Aufsätze Rollands zu Empedokles bzw. Spinoza. Ich habe im Titel dieses Aperçu nur dem ersten Essay einen deutschen Titel mitgegeben, weil meines Wissens „Der Blitz des Spinoza“ nicht ins Deutsche übertragen wurde – allenfalls versteckt in einer Essay-Sammlung, die ich nun nicht sämtliche durchpflügt habe. Beide Aufsätze stammen aus der Zeit kurz nach der Verleihung des Nobelpreises, wurden zum Teil noch während des Ersten Weltkriegs geschrieben und erschienen bald nach dessen Ende 1918 (Empédocle d’Agrigente et l’âge de la haine) bzw. 1924 (L’éclair de Spinoza). Beide drehen sich um eine ähnliche Thematik, wobei der Empedokles-Aufsatz bedeutend länger ist. Hölderlins Dramen-Fragmente zu Empedokles kennt Rolland ganz eindeutig nicht. Es ist schwierig, dem Franzosen zu folgen. Empedokles wie Spinoza sind für ihn Beispiele von Licht- bzw. Erlösergestalten (er parallelisiert den alten Griechen einmal mit Jesus von Nazaret und Buddha), beide weisen auf ihre Art eine mystisch-orphische Bedeutung auf, sind aber für Rolland immer in der Realität, in der Naturwissenschaft und der Tagespolitik verankert (letzteres zumindest gilt für Empedokles). Indem er versucht, so einen Bogen zu schlagen vom antiken Atomismus zu Darwins Evolutionstheorie, dabei Platon ebenso mitnimmt wie Aristoteles, Goethe ebenso wie Spitteler, kommt er bei Empedokles zu einer Figur des faustischen Menschen, bei Spinoza endet er mit dem Zitat Seid umschlungen Millionen aus Schillers Ode an die Freude (bzw. – Rolland war von Haus aus Musikologe – Beethovens Vertonung), wodurch Rolland also, mehr noch also im Spinoza-Aufsatz als in den Ausführungen zu Empedokles sein Ideal einer Gesellschaft gleichberechtigter Menschen über einen rationalistischen Denker definiert. Beide Aufsätze arbeiten aber mit einer gehörigen Portion Emphase und rücken ihre jeweiligen Protagonisten immer wieder in die Nähe einer speziellen Form von ekstatischer Mystik, die mich sehr an Fritz Mauthners Versuch einer Gottlosen Mystik erinnert. Ich habe schon Mauthner damals nicht folgen können / wollen; es geht mir nun bei Rolland (der offenbar auch Mauthner nicht kennt) ebenso.
Fazit: Ein Blick in eine (für mich) seltsame Welt. Ich sehe aber keinen Grund, Romain Rolland weiter zu verfolgen.
Meine Ausgabe:
Romain Rolland: Empédocle suivi de L’éclair de Spinoza. Précédée de Romain Rolland philosophe-poète. Vers « la divine hamonie » par Roger Dadoun. Paris: Editions Manutius, 2014.