Eugène Labiche: Le Voyage de Monsieur Perrichon

Auf weißem Hintergrund flüchtig skizziert ein paar Stadthäuser. In der Mitte (deutlich gezeichnet) der Kopf eines wohlbeleibten blasierten Bürgers, der (das sieht man auf dem von mir gewählten Ausschnitt nicht) offenbar gerade eine Kutsche verlassen hat und jetzt sein Geld zählt). Das Original ist eine Karikatur von Honoré Daumier und erschien 1835 in der Zeitschrift "Charivari". und wurde im Ausschnitt fürs Cover verwendet. - Hier, wie gesagt, nur ein Ausschnitt des Auschnitts.

Henri Bergson nannte Eugène Labiches Komik sinngemäß eine mechanische. Damit wollte er ausdrücken, dass vieles in Labiches Lustspielen komisch wirkt, weil der (eigentlich lebendige und eben nicht mechanische) Körper der Menschen in einer Bewegung fortfährt, die durch die Ereignisse überholt und sinnlos gemacht wurde: Der Stolpernde, dessen Beine weiter gehen wollen, obwohl er bereits im Fallen begriffen ist – komisch. Der Stotternde, dessen Zunge eine Silbe immer und immer wiederholt, obwohl er sie bereits ausgesprochen hat und weiterfahren könnte – komisch.

Diese Art von Komik finden wir in Le Voyage de Monsieur Perrichon allerdings nicht, außer wir möchten dazu rechnen, dass der Protagonist, Monsieur Perrichon, schon fast wie ein Metronom, regelmäßig seine Ansicht über die zwei jungen Männer ändert, die beide um die Hand seiner Tochter angehalten haben.

Von diesem Stück scheint es keine deutsche Übersetzung zu geben, jedenfalls habe ich keine gefunden. Es ist natürlich möglich, dass sie entweder einen anderen deutschen Titel erhalten hat als „Die Reise des Herrn Perrichon“ oder dass man sie in einem Sammelband versteckt hat. Ich denke eher, dass es tatsächlich nicht übersetzt wurde und dies, weil der zentrale Streitpunkt in der Nebenhandlung des Stücks auf einer sprachlich-orthographischen Pointe beruht.

Aber nun muss ich kurz den Inhalt des Stücks umreißen: Zu Beginn treffen wir Herrn Perrichon, seine Frau und seine 18-jährige Tochter in der Halle des Gare de Lyon. Herr Perrichon will nämlich verreisen. Ursprünglich war er Kutschenbauer, ist damit reich geworden und möchte sich nun einen Urlaub leisten. Ebenfalls in diesem Bahnhof treffen ein Daniel und Armand, die beiden Möchtegern-Verlobten, die Perrichon folgen wollen. Und dann ist da noch der Commandant Mathieu, ein alter Offizier, auf der Flucht vor seiner Geliebten. Diese nimmt ihn aus wie einen Truthahn, er hat bereits überall Schulden. Es ist, wie sein Bediensteter ironisch festhält, das achte Mal, dass Mathieu vor der Dame flieht, und der Bedienstete sagt bereits jetzt voraus, dass der alte Herr abermals zu dieser Frau zurück kehren wird.

Akt II spielt dann in den Gletschern, genauer im Mer de Glace, im Eismeer, einem Gletscher des Mont Blanc-Massivs, noch genauer in einem Hotel in Montenvers. (Was mit dabei irritiert, ist der Umstand, dass dieser Gletscher (und Montenvers!) – und schon damals – auf französischem Gebiet liegen, Monsieur Perrichson aber ganz klar aussagt, er reise in die Schweiz, sogar an den damals offenbar unumgänglich mit der Schweiz verbundenen Wilhelm Tell erinnert. Ein Scherz von Labiche? Oder wusste es der Autor selber nicht besser? Jedenfalls wird diese Aussage nie thematisiert.) In dieser Herberge beginnt das Spiel der Werbung um Henriette Perrichon erst richtig. Der Offizier ist ebenfalls dort, aber noch besteht kein Kontakt zwischen seiner Nebenhandlung und der Haupthandlung. Die entsteht zunächst indirekt, als Monsieur Perrichon ins Gästebuch des Hotels folgenden Eintrag schreibt:

Que l’homme est petit quand on le contemple du haut de la mère de glace!

II, 7

(„Wie klein der Mensch doch ist, wenn man ihn aus der Höhe des Gletschermeers betrachtet!“) Der Satz an sich ist so banal wie der ganze Ex-Kutschenbauer, aber auch typisch für die Halbbildung des ehemaligen Handwerkers. War er nun, weil er es immer nur gehört hat und nie geschrieben gesehen, wirklich der Meinung, es müsse hier mère heißen? War er wirklich der Meinung, es handle sich um die „Mutter des Eises“? Unmöglich ist es nicht. Jedenfalls spielt Labiche hier das gleiche orthographische Spiel, das mehr als 150 Jahre später Kim de l’Horizon auf andere Weise aufnehmen würde, wenn die Hauptfigur des Blutbuchs immer von der Mer schreibt, wenn die Mutter gemeint ist. Zumindest zu meiner Zeit war es in Bern durchaus Usus, dass junge Männer vor allem in der Öffentlichkeit nicht das neutral, aber dämlich klingende Wort ‚Mutter‘ verwendeten und schon gar nicht ‚intimere‘ Begriffe wie ‚Mama‘ sondern auf das französische Wort zurückgriffen. Diesen Brauch nimmt Kim de l’Horizon auf, verfremdet ihn aber durch ‚falsche‘ Rechtschreibung.

Bei Labiche dient der Satz dazu, Haupt- und Nebenhandlung miteinander zu verknüpfen. Der Commandant nämlich sieht diesen Satz und setzt eine bissige Bemerkung über Perrichons Intelligenz darunter. Die wiederum dieser sieht und seinerseits eine Beleidigung des Vor-Schreibers hinzufügt, bevor er nach Paris zurückreist – die beiden Werbenden immer noch im Schlepptau. Diese letzte Beleidigung hat wiederum der Commandant gesehen. Da er sowieso schon lange wieder zu seiner Geliebten nach Paris zurück will, verbindet er dies damit, dass er dort dann Perrichon zum Duell fordert.

Der Rest führt, nach einigen Verwicklungen, zum unumgänglichen Happy Ending. Perrichon, der ein Gespräch der beiden Werbenden überhört und dabei erfährt, wie leicht es für den einen war, ihn zu manipulieren und sich so in die ‚Pole Position‘ für die Heirat zu bringen (zumindest bei ihm, Monsieur Perrichon, Mutter und Tochter haben seit jeher den anderen, ehrlicheren, vorgezogen) – Perrichon also ist geläutert oder gibt sich wenigstens so und die Hand seiner Tochter dem ehrlichen Bewerber, und damit hat das Stück ein Ende.

Eine nette, nicht allzu bissige Satire auf den Bürger des Second Empire. Noch vor rund 50 Jahren wurden Stücke von Labiche auch im so genannten ‚Volkstheater‘ (Millowitsch!) aufgeführt und im Fernsehen übertragen. Seine Komik kommt zwar im 21. Jahrhundert ein bisschen altväterlich daher, wirkt aber sicher noch immer. Jedenfalls haben sich meine Mundwinkel das eine oder andere Mal verzogen. Allerdings sollte man seine Stücke nicht lesen sondern auf der Bühne sehen. Vieles in seiner Komik hängt ab vom richtigen Tempo der Dialoge und der Auf- und Abtritte.


Ich habe das Stück (leider) nur gelesen, und zwar in folgender Ausgabe:

Eugène Labiche: Le Voyage de Monsieur Perrichon. Paris: E. J. L., 1998. (= Librio 270)

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