Alfred de Vigny: Stello

In einem mehrfarbigen Rahmen (weiß, grau und gelb) steht vor einem dunkelblauen, mit Sternen besäten Himmel die Silhouette eines Mannes. - Ausschnitt aus dem Buchcover.

Mit vollem Titel heißt das Werk Les Consultations du Docteur-Noir. Première consultation : Stello ou les Diables bleus (Blue Devils) [„Die Konsultationen des Docteur-Noir. Erste Konsultation: Stello oder die blauen Teufel (Blue Devils)“ – meine Übersetzung]. Dieser Langtitel ist zugleich schon fast die Zusammenfassung der Rahmenerzählung von und mit Stello.

In seinem Aufbau besteht Stello also aus einer Rahmenerzählung und drei Binnenerzählungen. Die Binnenerzählungen werden des öfteren unterbrochen durch Reflexionen und Dialoge des Docteur-Noir und Stellos, in denen wir poetologische, politische und andere Reflexionen finden, gemacht an Hand des Schicksals der Protagonisten der Binnenerzählungen. Ähnlich wie bei Gottfried Kellers Sinngedicht sind die Binnenerzählungen aber auch Bestandteil der Handlung der Rahmenerzählung bzw. nehmen darauf Einfluss. Aber es können – wiederum wie bei Kellers Sinngedicht – die Binnenerzählungen auch separat gelesen werden. Vigny hat selber zum Beispiel die zweite, Kitty Bell, zu einem vom Roman Stello unabhängigen Drama umgeschrieben. Das gelang sogar trotz der Tatsache, dass in jeder der drei Binnenerzählungen der Docteur-Noir des Rahmens zumindest eine Nebenrolle als Beobachter spielt.

Die drei Binnenerzählungen werden üblicherweise mit dem Titel des ersten Kapitels bezeichnet, in dem die Erzählung jeweils anfängt. Vigny selber aber hat diese Titel nicht speziell vor den anderen hervorgehoben – es ist also eine reine Bequemlichkeit der literarischen Analytik.

Das Wort ‚Analytik‘ führt mich gleich zur Darstellung der Rahmenerzählung. Diese erinnert nämlich – mindestens am Anfang – an eine psychoanalytische Sitzung avant la lettre. Stello erleidet gerade eine schweren Anfall von Melancholie, verbunden mit einer heftigen Migräne. (Die ‚blauen Teufel‘ sind ein Symbol für die heftig pochenden Schmerzen in seinem Schädel.) Auslöser dieses Schubs ist die Tatsache, dass er sich gerade darüber klar geworden ist, wie wenig die Welt (oder, mit einem Begriff aus dem späten 20. Jahrhundert: ‚die Gesellschaft‘) seine dichterischen Werke und den dahinter stehenden Dichter schätzt. Er überlegt sich vage, ‚in die Politik‘ zu gehen, um dies zu ändern. In diesem Moment nun erhält er Besuch vom Docteur-Noir, der so heißt, weil er Arzt ist und immer schwarz gekleidet geht. Der entstehende Dialog der beiden erinnert zunächst an eine psychoanalytische Sitzung, allerdings stellt sich rasch heraus, dass der Docteur-Noir, anders als ein Psychoanalytiker, nicht zuhört sondern selber erzählt. Sein Ziel ist es, an Hand von drei Geschichten seinen Patienten davon zu überzeugen, dass die Missachtung des Dichters unabhängig ist von der jeweils gerade an der Macht stehenden Regierungsform. Der Poet ist per se, durch seine Berufung, dazu verdammt, missachtet zu werden. (Von diesem Punkt aus lassen sich Linien ziehen zum poète maudit des Charles Baudelaire, der einen der Brennpunkte der französischen Literatur darstellt, und von dort zur Moderne.)

Um seinen Standpunkt klar zu machen, erzählt der Docteur-Noir im Folgenden die Lebensgeschichte dreier Dichter. Es sind dies Nicolas Gilbert, Thomas Chatterton und André (de) Chénier. Alle drei haben wirklich gelebt, alle drei sind jung gestorben, allen drei war es gemeinsam, dass die Mitwelt sie nicht achtete (und die Nachwelt sie vergaß). (Auf Chatterton, nebenbei, sind wir in diesem Blog indirekt schon einmal gestoßen: Der rothaarige, auf einem Canapé liegende Jüngling, der das Titelbild meiner Ausgabe von De Quinceys Opium-Eater bildet, und deshalb auch meines Aperçu zu diesem Buch, stammt aus dem Ölgemälde The Death of Chatterton des präraffaelitischen Malers Henry Wallis von 1856.)

Zwei der drei Dichter, von denen nun erzählt wird, stehen kurz vor dem Verhungern, als sie der Docteur-Noir kennen lernt. Ihre Versuche, einen Mäzen zu finden, scheitern auf das Grausamste. Bei Gilbert wird der Docteur-Noir, der Zutritt hat zum französischen König Louis XV (weil dessen aktuelle Mätresse Angst davor hat, von einem tollwütigen Floh gebissen worden zu sein, weshalb das erste Kapitel, das sich mit Gilberts Geschichte beschäftigt, dann auch Histoire d’une puce enragée heißt) wird, sobald er die Rede auf den Dichter bringt, vom König höchstpersönlich, freundlich aber unmissverständlich vor die Tür gestellt. Um nicht zu verhungern, beschließt Gilbert, einen Löffel zu verschlucken und daran zu ersticken. Fazit des Docteur-Noir: Der Absolutismus ist kein Boden für Dichter, weil der absolutistische Herrscher den unabhängig denkenden Dichter fürchtet.

Poet N° 2 wird zunächst in einem Kapitel namens Kitty Bell vorgestellt Chatterton, der unter dem Pseudonym eines mittelalterlichen Mönchs namens „Rowley“, seine größten Erfolge feierte, aber auch, als das Pseudonym gelüftet wurde, deswegen als Fälscher am meisten Verachtung erfuhr. Auch er suchte einen Mäzen und wandte sich deshalb an Beckford (den Vater des Autors von Vathek und zu dieser Zeit allmächtiger Premierminister in Großbritannien), der ihm aber keine finanzielle Unterstützung zukommen ließ sondern eine Stelle als Kammerdiener anbot. Chatterton, der nun nicht mehr weiß, wie er seinen Lebensunterhalt ‚anständig‘ verdienen kann, reagiert auf diese Erniedrigung damit, dass er sich mit Arsen vergiftet. Auch die konstitutionelle Monarchie, schließt der Docteur-Noir aus Chattertons Schicksal, ist kein Boden für einen Dichter. (Vigny schraubt hier ein wenig an den realen Geschehnissen: Die offerierte Stelle war die eines Sekretärs – also so erniedrigend nicht.)

Der letzte, André (de) Chénier, ist der einzige der drei, der sich nicht selber umbringt. Er stirbt in den letzten Tagen von Robespierres Schreckensherrschaft auf der Guillotine – das erste Kapitel mit seiner Geschichte nennt sich denn auch Une histoire de la Terreur. Chéniers Geschichte ist in der Darstellung Vignys wahrhaft tragisch, weil alle Versuche von Vater und Bruder, den jüngeren Sohn aus der Bastille herauszubringen, ins genaue Gegenteil umschlagen. (Im Übrigen war Chénier politisch tatsächlich Anhänger des Ancien Régime.) Auch die Republik, wird der Docteur-Noir finden, ist also dem Dichter feindlich gesinnt.

Man hat Vigny vorgeworfen, die biografischen oder historischen Details nicht in jedem Fall genau eingehalten zu haben. Das stimmt, aber es gilt auch festzuhalten, dass es Vigny nie um die Biografien der drei Autoren als solche ging oder er gar einen historischen Roman hätte schreiben wollen. (Obwohl gerade die Geschichte Chéniers viele Züge eines historischen Romans trägt – sie ist aber auch die bei weitem schwächste der drei Binnenerzählungen.) Er hat in diesem Roman seinen eigenen Kampf um die Achtung der Gesellschaft einfließen lassen, seine eigenen Erfahrungen als Schriftsteller mit den politischen Systemen seiner Zeit verarbeitet – insbesondere mit dem bürgerlich-kapitalistisch orientierten des Louis-Philippe I.

Der pessimistische Schluss und das ‚Rezept‘, das der Docteur-Noir seinem Patienten ausstellt lautet:

Séparer la vie poétique de la vie politique.

Seul et libre, accomplir sa mission.

(Poesie und Politik von einander getrennt halten – Seine Mission allein, aber frei, erfüllen.)

Eine zweite Konsultation findet übrigens nicht statt, weder innerhalb noch außerhalb dieses Romans.

Rein literarisch betrachtet, muss gesagt werden, dass der Roman seine Schwächen hat. Nachdem der Beginn, von Ton und Sprache her, etwas in der Art der Gesänge des Maldoror von Lautréamont erwarten ließ (Isidore Ducasse hat Stello zweifellos gekannt), wird die Erzählspur immer breiter – die Geschichte des André de Chénier ist ungefähr gleich lang wie die anderen beiden zusammen genommen, und sie geht auch am weitesten ins historische Detail. Auch werden die Positionen der beiden Protagonisten der Rahmenerzählung, Stello und Docteur-Noir, oft verwässert. Eigentlich war der Arzt als der kühle und unbeteiligte Beobachter angelegt, Stello als der empfindsame und rasch erregte Mitfühlende. (Aus dieser Verteilung der Rollen gleich zu schließen – wie es Marc Eigeldinger, der Herausgeber, tut –, dass wir hier eine Darstellung von Jungs psychoanalytischen Gebilden Animus und Anima vor uns hätten, des väterlich-männlich-analysierenden Teils unseres Wesens und des mütterlich-weiblich-empfindenden, die beiden Vigny also als Projektion der eigenen psychischen Verfassung dienen, scheint mir wie jede Psychoanalyse ex post etwas übertrieben.) Auch hält Vigny diese Dualität nicht durch. Gerade in der Geschichte des André Chénier wird der Arzt selber viel zu rührselig. Das einzig Interessante in diesem Teil finde ich jene Momente, in denen er, der gerade eine Audienz bei Robespierre hat, ein paar Blätter zum Lesen erhält. Die Ausschnitte, die er uns referiert, machen klar, dass es sich um eine (wirklich existierende – Vigny zitiert hier wörtlich) politische Utopie des Genossen von Robespierre handelt, Saint-Just. Indem er so die Realität des Großen Terrors vergleicht mit der Vision eines zwar strikten, aber doch menschenfreundlich gedachten Staates, wie sie Saint-Just in Anlehnung an Platon beschrieben hat, will uns der Autor endgültig die Leerheit jedweder ideologischen Formeln klar machen. Dass er die Erste Republik in einem ihrer schlimmsten Momente zeichnet, scheint ihn dabei nicht zu irritieren.

Alles in allem ein interessanter Roman des Romantikers Alfred de Vigny – für alle, die romantische Romane mögen. Wie zum Beispiel ich. Schade, dass er zum Schluss so abfällt.


Gelesen in folgender Ausgabe:

Alfred de Vigny: Stello. Introduction, notes, documents et chronologie par Marc Eigeldinger. Paris: Flammarion, 2008 (= GF 1390)

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