Man nannte sie, dem Gebrauch der damaligen Zeit folgend, meist nur „die Karschin“. Das war nicht so negativ gemeint, wie es heute klingt. Auch Luise Adelgunde Victorie Gottsched, die Frau von Johann Christoph Gottsched, dem bekannten Literaturpapst seiner Zeit, wurde als „die Gottschedin“ bezeichnet. Christoph Martin Wieland nannte seine verheirateten Töchter nicht immer beim Vornamen, sondern bezeichnete sie gegenüber Dritten oft auch als (zum Beispiel) „die Reinholdin“. Aber natürlich steckt darin die grundlegend frauenfeindliche Haltung der Zeit, für die eine verheiratete Frau prinzipiell und vor allem das Anhängsel ihres Mannes war. Dabei war gerade „die Gottschedin“ wohl die intelligentere Literatin als ihr Mann, dem sie vieles zuarbeitete.
Bei „der Karschin“ liegt der Fall noch einmal anders. Es war ihr wohl nicht an der Wiege gesungen, dass sie einmal die bekannteste deutsche Lyrikerin ihrer Zeit sein werde. Sie stammte nämlich aus einfachen Verhältnissen (ihr Vater war Wirtshauspächter – ein nicht unbedingt angesehener Beruf), und ich möchte nicht die Hand dafür ins Feuer legen, dass in ihrem Elternhaus überhaupt eine Wiege stand. Oder dass ihre Eltern, ihre Mutter, überhaupt Zeit fanden, ihr Lieder vorzusingen. Bei einem Onkel lernte sie lesen und schreiben, erhielt sogar Grundkenntnisse in Latein. Dann starb ihr Vater, kurze Zeit später auch der zweite Mann ihrer Mutter. Sie kam zurück nach Hause, erlernte die üblichen von einer jungen Frau erwarteten Fähigkeiten im Haushalt und wurde dann mit gerade mal 15 Jahren verheiratet. Nach drei Kindern, als sie gerade mit dem vierten schwanger war, reichte der Mann die Scheidung ein, weil sie ihren Haushaltspflichten nicht nachgekommen sei. Ich weiß jetzt nicht, ob er darunter auch die so genannten ehelichen Pflichten verstand – zumindest war es so, dass er die beiden älteren Söhnt mitnahm, vom vierten Kind aber nichts wissen wollte, was zumindest darauf hindeuten könnte, dass er der Meinung war, dieses vierte Kind sei nicht von ihm gewesen. Anna Louisa Karsch kehrte für kurze Zeit zur Mutter zurück, die sie aber raschestmöglich wieder verheiratete, mit einem Schneider namens Daniel Karsch. Der wiederum entpuppte sich als Trinker. Dennoch kamen in dieser Ehe einige Kinder zur Welt. Bis hierher ist der Lebenslauf der Dichterin keineswegs verschieden von dem so vieler junger Frauen aus einfachen Verhältnissen jener Zeit. Einzig der Umstand, dass sie anfing zunächst im Kreis der weiteren Familie Gedichte zu festlichen Gelegenheiten zu verfassen, und dann, mit Ausbruch des Siebenjährigen Kriegs, auf Flugblättern auch welche auf den preußischen Herrscher Friedrich II., änderte ihr Leben. Sie wurde bekannt und konnte über Gönner aus Offizierskreisen erreichen, dass Karsch zum Militär eingezogen wurde. Allerdings gab es nach damaligem Recht keine Möglichkeit für sie, eine Scheidung einzureichen – was sich später in ihrem Leben rächen sollte.
Aufmerksamkeit fand sie im Folgenden vor allem beim Literaturförderer und Patriarchen der deutschen Literatur, Gleim. Er nannte sie die deutsche Sappho und nahm an ihr in Halberstadt eine seiner Dichterkrönungen vor. Dass sie sich prompt in ihn verliebte, empfand er allerdings als Zumutung …
Das Leben der Anna Louisa Karsch veränderte sich grundlegend. Sie war zwar nun bekannt, aber nur von der Bekanntheit konnte damals selbst ein männlicher Dichter nicht leben. Sogar der berühmte Lessing, als er es versuchte, musste klein beigeben und als Bibliothekar in Wolfenbüttel Unterschlupf suchen. Auch die meisten anderen mussten sich Jobs suchen oder kirchliche Pfründe (wie zum Beispiel Gleim). Nur wenige konnten wie Klopstock von dem leben, was ihnen von einem Mäzen oder mehreren zugesprochen worden war. Und ganz große Ausnahmen stellten Schriftsteller dar, die wie Johann Wolfgang Goethe von Haus aus reich genug waren, um tun und lassen zu können, was sie wollten – zum Beispiel der Literatur frönen.
Anna Louisa Karschs Problem war aber nun, dass all diese mehr oder minder literaturaffinen Stellen oder kirchlichen Pfründe nur – Männern offen standen. Frauen, so sie arbeiten mussten, wurden Magd oder Wäscherin. Das aber wollte Anna Louisa gerade nicht – sie hatte lange genug als Rinderhirtin gearbeitet, um zu wissen, was für eine Art von Beschäftigung dies war. (Das drückt sich auch, nebenbei gesagt, in ihren anakreontischen Gedichten aus, die sie im Gefolge Gleims natürlich ebenfalls verfasste. Obwohl – oder weil – diese zu ihren besseren Werken gehören, merkt man ihnen an, wie sich die Dichterin sträubt, die Tätigkeit von Hirten und Hirtinnen allzu sehr zu glorifizieren.) Zusammengefasst: Anna Louis Karsch war für ihren Lebensunterhalt auf Mäzene angewiesen.
Und dies führt nun zur Dichtung dieser Frau. Wir finden viele, viele, viele Lobeshymnen auf aktuelle oder potenzielle Mäzene beiderlei Geschlechts. Die meisten davon sind aus heutiger Sicht einfach nur peinlich. Friedrich II. kann nicht einfach nur ‚Friedrich II.‘ sein oder ,Friedrich der Große’ – es muss in typisch barocker Übertreibung gleich Friedrich der Größte heißen, und Schutzgott und ähnliches. Das ist aus ihrer Lebenssituation heraus verständlich, empfiehlt sie aber natürlich heutigen Lesenden nicht mehr unbedingt. Tatsächlich gibt es neben ein paar anakreontischen Gedichten und ein paar Kleinigkeiten wenig heute noch Interessantes – jedenfalls, wenn man einen rein literarischen Standpunkt einnehmen will. Eine Ausnahme bilden vor allem jene Fälle, in denen Anna Louisa Karsch eigenen Gefühle und Erlebnisse durchblicken lässt. Da kann sie auch gegenüber Friedrich dem Größten bissig werden. Der hat ihr nämlich einmal in einer Audienz versprochen, ihr eine Pension zu stiften und ein Haus in Berlin zu besorgen, was die Dichterin denn auch in einer Lobeshymne laut verkündet. Nur: Des Größten Gedächtnis muss eines der kleineren gewesen sein – er hatte offensichtlich vergessen, das auf Grund der Kosten seiner diversten Kriege die Staatskasse leer war; auf seine Worte folgten keine Taten, nur von Zeit zu Zeit ein paar Taler. Enttäuscht und nicht mehr ganz des Lobes voll, gab Anna Louisa Karsch auch das in einem Gedicht bekannt. Einmal, und auch das gab sie öffentlich bekannt, verweigerte sie gar die Annahme des Geldes. (Geld war zu jenem Zeitpunkt auch nicht mehr ihr Problem; sie verdiente im Grunde genommen unterdessen mit dem Umsatz ihrer Bücher genug – aber als de jure immer noch verheiratete Frau durfte sie auf dieses Geld nach damaligem Recht nicht zugreifen …) Erst des Größten Neffe und Nachfolger, Friedrich Wilhelm II., verwirklichte dessen Versprechen – aber die alternde Anna Louisa wurde ihres Hauses in Berlin nicht mehr richtig froh.
Es gibt auch andere Gedicht, die bis heute Eindruck machen. Sie alle stehen in Zusammenhang mit ihrer Herkunft und man könnte sie heute als eine Art ‚Arbeiterliteratur‘ avant la lettre bezeichnen. Man muss aber im Wust ihrer Widmungsgedichte nach solchen Perlen suchen, leider. (Immerhin hielt Schiller ihre Dichtung für gut genug, um etwas davon in seine Horen einzufügen. Das war aber zugegeben schon lange nachdem er auf seinen ursprünglichen Anspruch Verzicht getan hatt, dass in seiner Zeitschrift nur die damalige Elite publizieren solle, und er auch schon mal, weil’s billiger kam, auf verstorbene Autor:innen zurückgriff.)
Noch ein Wort zum Stand und zur Verfügbarkeit ihrer Werke: Eine kritische Gesamtausgabe existiert nicht. Was Ende des 20. und im 21. Jahrhundert veröffentlicht wurde, steht praktisch immer in Zusammenhang mit Gleim – wie wenn Anna Louisa Karsch nicht viel mehr als dessen Anhängsel gewesen wäre. Man spricht heute viel über feministische Literaturwissenschaft, aber selbst Frauen können da offenbar nicht anders. Ansonsten gibt es, was Wikipedia verschweigt, einen Neudruck jener Ausgabe ihrer Gedichte, die ein Jahr nach ihrem Tod von ihrer Tochter Caroline Louise von Klencke zusammen gestellt wurde:
Anna Louisa Karsch: Gedichte. Ausgabe 1792. Vollständige Neuausgabe mit einer Biographie der Autorin. Herausgegeben von Karl-Maria Guth. Berlin: Contumax, 2015 (= Sammlung Hofenberg).
Es handelt sich bei der Sammlung Hofenberg um BoD (Books on Demand), Reprints verschiedener ‚klassischen‘ Schriften. Anders als viele dieser BoD-Verlage, die einfach die gemeinfreien Google-Books plündern und mehr oder weniger gute Fotokopien nachdrucken und als Buch zusammenkleben, sind in der Sammlung Hofenberg die Texte jeweils neu gesetzt und offenbar auch sauber Korrektur gelesen. Ebenso gehört eine Biografie des/der Autor:in dazu. Dennoch bleiben die Ausgaben jeweils recht erschwinglich. Einziger Wermutstropfen ist das lieblose Layout mit jeder Menge Hurenkinder und Schusterjungen oder im vorliegenden Fall Gedichtüberschriften, deren Einmittung nicht immer funktioniert hat. Ansonsten aber muss ich der Verlagswerbung Recht geben, wenn sie meint, dass ihre Ausgaben auch zitierfähig seien. So ist zum Beispiel hier die Paginierung der Originalausgabe von 1792 hier als Marginalie wiedergegeben.