Carmen – viele werden bei diesem Namen wohl eher an die romantische Oper von Georges Bizet denken als an deren literarisches Vorbild, die Kurzgeschichte gleichen Namens von Prosper Mérimée. Wer sie aber dann liest, wird erstaunt zwei Dinge feststellen: Zunächst ist diese Kurzgeschichte wirklich kurz. In meiner Ausgabe (Taschenbuchgröße, keine übertrieben kleine Type, anständiges Seiten-Layout) umfasst sie rund 80 Seiten (plus noch einmal rund 20 Seiten pädagogische ‚Aufbereitung‘ mit Fragen und Hilfen zur Interpretation, die ich aber hier bei Seite lasse). Diese Kürze hängt eng mit Mérimées Schreiben an und für sich zusammen. Carmen erschien 1847, nach einer jahrelangen Pause. Mérimée hatte bereits vorher begonnen, sich immer kürzer zu fassen – das hier ist sozusagen das letzte Kondensat.
Das Erstaunen geht aber noch weiter, denn schon beim Öffnen des Büchleins wird man feststellen, dass diese paar Seiten Erzählung aus vier unterschiedlich langen Kapiteln bestehen. Darin ist die eigentliche Liebesgeschichte (und damit die Vorlage zur Oper von Bizet) nur eines, das dritte sogar erst, zugegeben aber das längste. Im Übrigen haben wir die klassische Konstruktion von Rahmen- und Binnenerzählung.
Mérimées Carmen setzt ein damit, dass ein Ich-Erzähler, ein französischer Archäologe, zusammen mit einem einheimischen Führer durch Andalusien reitet auf der Suche nach dem wirklichen Ort der Schlacht von Munda (in der weiland Caesar den endgültigen Sieg über die republikanische Partei errang), weil er glaubt, dass seine archäologischen Kollegen sich bis dahin diesbezüglich geirrt hätten. Über dieses sein Unternehmen erfahren wir dann im Weiteren nichts mehr, denn als er unterwegs Rast macht, trifft er auf einen Mann, der sich von Anfang an seltsam benimmt. Sein Führer versucht, ihn vor dem Fremden zu warnen – was jedoch der Archäologe in den Wind schlägt. Er setzt sich zu ihm, offeriert ihm etwas Fleisch und ein Zigarre. Der Fremde nimmt an, und damit ist der Franzose beruhigt: Ein Spanier, so erklärt er uns, der eine Zigarre von einem Fremden annimmt, akzeptiert diesen als seinen Gastgeber und wird ihm nichts mehr zu Leide tun. Denn dass es sich beim Fremden um einen Banditen handelt, ist ihm schon klar. Bei der Rast in einer etwas seltsamen Herberge wird sich dann der Führer in der Nacht entfernen, um die in der Nähe stationierten Soldaten zu holen. Der Fremde ist kein geringerer als Don José, der meistgesuchte Straßenräuber Andalusiens. Der Archäologe weckt den Fremden, dem somit die Flucht gelingt. Damit endet das erste Kapitel.
Im zweiten erzählt unser Archäologe von einem Besuch in Cordoba, wo er in der Bibliothek der dortigen Dominikaner nach Unterlagen zur oben genannten Schlacht sucht. Er lässt sich von einer Zigeunerin einwickeln, die ihn zu sich nach Hause nimmt, um ihm seine Zukunft vorher sagen zu können. Ihr Partner erscheint und einen Moment lang sieht es so aus, als ob – um seiner Taschenuhr wegen – das letzte Stündlein des Archäologen geschlagen hätte. Aber der Partner ist Don José, der seinen Lebensretter erkennt und ihn laufen lässt.
Somit haben wir zwar Carmen nun gesehen und erlebt (denn um sie handelt es sich bei der Zigeunerin), aber die eigentliche Liebesgeschichte kommt erst in Kapitel III. Monate später, der Franzose ist nun in der Gegend von Navarra unterwegs, erfährt er, dass Don José im dortigen Gefängnis sitzt. Er besucht ihn und Don José, der nunmehr zum Ich-Erzähler wird, berichtet dem Franzosen (und er uns) die ganze komplizierte Geschichte zwischen Carmen und José. Auf in den Kampf, Tore-e-e-e-ro? Nein, keineswegs. Es kommt nirgends ein Torero vor – für die Oper musste das dritte Kapitel gehörig gestreckt werden. Was uns Mérimée auf ein paar Seiten vorführt, ist die Geschichte einer von Anfang an dysfunktionalen Beziehung, in deren Verlauf nicht nur gegenseitige Betrügereien vorkommen sondern auch diverse Morde, Totschläge und Duelle. Das Ganze wird rasant und packend erzählt, bis wir auf dem Punkt sind, wo Don José seine Carmen erdolcht und sich selber dem Gericht angibt. Hier endet dann auch Kapitel 3.
Die Geschichte ist romantisch, die Erzählweise aber bereits realistisch.
Das vierte Kapitel?
Ach ja. Bei der Erstveröffentlichung in einer Zeitschrift umfasste die kurze Geschichte tatsächlich nur drei Kapitel und endete mit dem Besuch des Franzosen beim zum Tod verurteilten Don José. Für die Buchveröffentlichung fügte Mérimée ein viertes Kapitel an. Das ist nun etwas völlig anderes und zeigt definitiv, dass sich der Autor von der Romantik, in der er so bekannt geworden war (Die Venus von Ille!), zu lösen sucht. Mérimée unternimmt es, im vierten Kapitel die Bohémiens ethnologisch zu fassen. (Mérimée war eine Zeitlang der ‚oberste Archäologe‘ im Second Empire, und was er nun schreibt, ist durchaus auf der Höhe der damaligen Wissenschaften der Ethnologie und der Sprachwissenschaft. Auch dass er die Begriffe bohémien und tsigan benutzt, war damals üblich. Er kennt die Wörter rom und roma, übersetzt sie aber als ‚Mann‘ und ,Frau’ – im Sinne eines eheähnlichen Zusammenlebens. Ich habe hier, um Mérimées Text nicht grundlegend zu verfälschen, ebenfalls das Wort ‚Zigeuner‘ benutzt, bin mir aber dessen bewusst, dass das heute unangebracht ist.)
Es ist schon fast experimentelles Schreiben, was uns Prosper Mérimée hier zeigt und er überschreitet die Grenzen sowohl der Romantik wie des Liebesromans beim Versuch, den Realismus seines hinter dem Schleier von Romantik und Liebesroman stehenden Literaturverständnisses aufzuzeigen. Und zumindest für mich macht das diese 80 Seiten erst interessant.
Prosper Mérimée. Carmen. Paris: Flammarion, 2021. (= Éditions J’ai lu, librio n° 13)