Anderes Land, andere Zeit, anderer Mann – andere Fabeln. So in etwa könnte man den Unterschied beschreiben, der zwischen den Fabeln von Jean de La Fontaine (erstmals veröffentlicht 1668) und denen von Gotthold Ephraim Lessing (1759) zu finden ist. Zwar könnte man La Fontaine mit seinem menschenerzieherischen Anspruch zum Frühaufklärer ernennen – so, wie Lessing ein Spätaufklärer war. Aber der Unterschied zwischen dem Franzosen, der letzten Endes für die Höflinge eines absolutistisch herrschenden Monarchen schrieb, und dem Deutschen, der in einem Land lebte, das politisch eben keines war, jedenfalls kein geeintes, wo zwar (unter anderem) auch absolutistische Monarchen herrschten, aber in Klein- und Kleinststaaten, so dass es oft genügte, ein paar Schritte zu tun, um in einem anderen Staat zu stehen. Der Franzose fühlte sich durch Zeit und Ort seines Dichtens völlig dem Horaz’schen ‚prodesse et delectare‘ verpflichtet, und schrieb deshalb Fabeln, die nicht nur eine moralische Anwendung kannten sondern auch ‚schön‘, will sagen: in Versen, gehalten waren. Zwar findet man auch bei Lessing unter dem Titel Fabeln und Erzählungen solche, aber diese paar Fabeln will ich vernachlässigen. Sie lohnen kaum der Lektüre. (Außer dass er hier, nebenbei gesagt, einmal Miltons Paradise Lost lobt und sich damit in einen Gegensatz zum nur 30 Jahre älteren Text Versuch einer critischen Dichtkunst von Gottsched stellt. So kurz war die Herrschaft jenes ersten Literaturpapstes der Deutschen …)
Bedeutend interessanter, literatursoziologisch und -historisch gesehen, sind die 1759 veröffentlichten Fabeln in Drey Büchern. Gleich zu Beginn, in der allerersten Fabel, macht Lessing den Unterschied zu seinen Vorgängern klar. Er stellt dafür sich selber vor, wie er im Wald sich bemüht,
In der einſamſten Tiefe jenes Waldes, wo ich ſchon manches redende Thier belauſcht, lag ich an einem ſanften Waſſerfalle und war bemüht, einem meiner Mährchen den leichten poetiſchen Schmuck zu geben, in welchem am liebſten zu erſcheinen, la Fontaine die Fabel faſt verwöhnt hat.
Doch es kommt nichts:
Ich ſann, ich wehlte, ich verwarf, die Stirne glühte — — Umſonſt, es kam nichts auf das Blatt.
Da aber erscheint ihm die die fabelnde Muſe persönlich. Auch das schon interessant: Wo Homer noch die Musen anrufen musste, kommen sie nun, im 18. Jahrhundert von selber zum Dichter.
Und sie kommt mit einer ganz klaren Ansage, macht dem Dichter klar, worauf es wirklich ankommt:
Schüler, wozu dieſe undankbare Mühe? Die Wahrheit braucht die Anmuth der Fabel; aber wozu braucht die Fabel die Anmuth der Harmonie? Du willſt das Gewürze würzen. Gnug, wenn die Erfindung des Dichters iſt; der Vortrag ſey des ungekünſtelten Geſchichtſchreibers, ſo wie der Sinn des Weltweiſen.
Dem Spätaufklärer also genüge das ‚prodesse‘. Was nicht heisst, dass Lessings Sprache im Folgenden irgendwie schludrig wäre – im Gegenteil. Er schreibt seine Fabeln in schönster, klarer Prosa. Aber Lessing will nicht mehr für den Höfling schreiben sondern für den Bürger, der einen klaren Nutzen sucht. (Wir stehen noch vor der Französischen Revolution, die den Bürger zum Maß aller Dinge machte – aber die Gedanken der Revolutionäre fielen ihnen ja nicht einfach vom Himmel zu.)
Lessings bürgerliche Haltung zeigt sich auch im Folgenden seiner Fabeln. Der König der Tiere, der Löwe, kommt selten genug vor. Die Nutzanwendung ist tatsächlich eine solche. Was – wir sprechen hier von einem Werk des großen Lessing – nicht bedeutet, dass diese Fabeln weniger poetisch wären als die des La Fontaine.
Ganz deutlich wird der Unterschied bei einer der berühmtesten Fabeln La Fontaines, Le corbeau et le renard, der Rabe und der Fuchs. Beim Franzosen wird der Rabe, der sich ein Stück Käse von irgendwoher ergattert hat, vom Fuchs angesprochen, der ihm über seine Gesangskünste so lange die schönsten Schmeicheleien um den Bart schmiert, bis der Rabe bereit ist, eine Kostprobe seines Könnens abzuliefern. Dabei fällt ihm natürlich der Käse aus dem Schnabel. Der Fuchs ergreift und frisst ihn, dabei dem Raben noch Salz in die Wunden streuend: „Mein guter Herr! Jeder Schmeichler lebt auf Kosten dessen, der ihm zuhört. Das haben Sie nun erfahren, und diese Lektion war sicherlich ein Stück Käse wert.“ (Meine Übersetzung) Der Rabe schämt sich und nimmt sich vor – ein wenig spät, wie La Fontaine anmerkt, dass man ihn nie wieder mit Schmeicheleien erwischen werde. Bei Lessing entwickelt sich eine ganz ähnliche Ausgangssituation völlig anders. Zunächst einmal ist, was der Rabe im Schnabel trägt, ein Stück vergiftetes Fleisch, das ein Gärtner ausgelegt hat, um des Nachbarn Katzen zu töten, die seinen Garten verwüsten. Dann schmeichelt der Fuchs dem Raben nicht mit dessen angeblichen Gesangskünsten sondern indem er tut, als verwechsle er ihn mit einem Adler, dem Vogel des höchsten Gottes Zeus. Das freut den Raben:
Ich muß, dachte er, den Fuchs aus dieſem Irrthume nicht bringen. — Großmüthig dumm ließ er ihm alſo ſeinen Raub herabfallen, und flog ſtolz davon.
Dumm zwar, aber auch großmütig, ist dieser Rabe. Der Fuchs aber kann sich nur kurze Zeit über seinen Erfolg freuen. Er frisst das vergiftete Fleisch und er verreckte. Doch die Pointe, im Normalfall bei einer Fabel also die Nutzanwendung, folgt erst noch. Und es ist keine moralische Nutzanwendung, sondern ein zorniger Ausruf des Poeten:
Möchtet ihr euch nie etwas anders als Gift erloben, verdammte Schmeichler!
Wo La Fontaine den Schmeichler noch als quasi naturgegeben betrachtet, eine unausweichliche Nebenerscheinung des höfisch-absolutistischen Lebens, wünscht ihm der bürgerlich orientierte Lessing sonst was an den Hals.
Lessings Moral ist in gewissen Sinne platter – aber auch für uns Heutige besser verständlich, die wir in einer Gesellschaft leben, die die ersten Ansätze zu einer „Herrschaft des Bürgers“ aus Lessings Zeiten weiter entwickelt hat (ich will nicht sagen: perfektioniert hat – wir haben längst wieder eigene, neue Probleme).
Lessing zu lesen ist eigentlich nie ein Fehler.