Plutarch war über Jahrhunderte einer der ganz großen, immer wieder zitierten Denker. Rabelais und Montaigne verehrten ihn ebenso wie Erasmus von Rotterdam oder Goethe. Nicht nur Ausschnitte aus seinen heute fast ausschließlich bekannten, so genannten Doppel- oder Parallelbiografien wurden von diesen und anderen fleißig rezipiert und zitiert sondern auch welche aus seinen Moralia bzw. Kleinen Schriften. Um einen Auszug aus letzteren handelt es sich auch bei meinem 1948 zum ersten Mal erschienen Buch des Artemis-Verlags in Zürich, herausgegeben, übertragen und eingeleitet von einem der damals bekanntesten Altphilologen, Bruno Snell.
In seiner Einleitung warnt Snell davor, in Plutarch einen Philosophen im modernen Sinn zu sehen. Das galt 1948, gilt auch heute noch. Plutarch gilt allgemein als Platoniker; man muss aber zur Kenntnis nehmen, dass sein Interesse weder der Metaphysik galt noch der Erkenntnistheorie sondern fast ausschließlich der Ethik. Genauer gesagt: der praktischen Ethik, der Kunst der Lebensführung.
Selber offenbar glücklich verheiratet, mit einem weitgehend glücklichen Familienleben ausgestattet, widmete Plutarch sich als Beamter dem Wohlergehen seiner Heimatstadt Chaironeia in Boiotien, dies zu einer Zeit, als die griechischen Städte längst im Römischen Reich aufgegangen waren und nur noch lokal eine gewisse Selbständigkeit aufwiesen. In seiner politischen Tätigkeit traf er auf Nero und andere Kaiser – in meiner Auswahl figuriert unter anderem ein Brief an Trajan.
Dieses sein eigenes glückliches Leben versuchte Plutarch, auch seinen Mitmenschen zugänglich zu machen. So sind seine Texte eher pädagogisch als philosophisch. Wo er philosophisch argumentiert, nähert er sich sehr der Stoa an (was damals aber in ethicis generell vom Platonismus gesagt werden muss). Ebenfalls zieht er ganz in der Manier der antiken Stoiker über Epikur her. In diesem Zusammenhang (also Fressen als Wohltat des Leibes) ist er sich nicht zu schade, einen Text über diätetische Vorschriften zu verfassen oder einem jungen Mann ganz praktische Vorschläge dazu zu geben, wie er sich am besten als Politiker um seine Stadt verdient mache.
Er schreibt Dialoge im Stile Platons (darunter auch ein Gastmahl der Sieben Weisen), theoretische Abhandlungen oder Maximen von Königen, Feldherrn und Spartanern – welch letztere dann stark ans Anekdotische streifen, aber teilweise Bon Mots enthalten, die über Jahrhunderte tradiert und zitiert wurden. Ebenfalls in meiner Ausgabe enthalten ist das berühmte Trostschreiben an seine Frau Apollonia über den Tod einer Tochter, in dem er sie davor warnt, sich allzu heftig der Betrübnis über den Verlust der Tochter hinzugeben, weil die noch im Kleinkind-Alter Verstorbene erst wenige Güter des Lebens hat kennen lernen können, deshalb auch nur wenig zu bedauern ist – eine Argumentation, die wir heute nicht mehr nachvollziehen können, die aber bis in die Theologie des Mittelalters nachwirkte. Selbst über die Gefahr schlecht angebrachter Scherze zu schreiben, ist sich Plutarch nicht zu schade.
Alles in allem, wie Snell sagt, mehr ein Autor für Gebildete als einer für Gelehrte. Als die Philosophie im 19. Jahrhundert zu einer Wissenschaft wurde mit eigenen Lehrstühlen, war es denn auch mit Plutarchs Reputation als Philosoph vorbei, zunächst noch ohne Einfluss auf seine Rezeption als Moralist und Sentenzen-Schreiber.
Und heute, im 21. Jahrhundert? Plutarch ist für uns heute wohl das Beispiel eines frühen Intellektuellen; will sagen, eines Menschen, der sich im Allgemeinen und im Besonderen zu sehr viel verschiedenen Themen zu äußern in der Lage ist, ohne an Glaubwürdigkeit zu verlieren. Aber eher Willemsen als Precht, denn Plutarchs Aussagen sind immer auf der Höhe seiner Zeit und wohlüberlegt.