Ludovico Ariost: Rasender Roland. Nacherzählt von Italo Calvino [Orlando furioso]

Schwarz-weiß-Zeichnung: Säulen und Dome einer fiktiven Renaissance-Stadt gehen wild durcheinander. (Gustave Doré - Illustration zu einer französischen Ausgabe des "Rasenden Roland".) - Ausschnitt aus dem Buchcover.

Zur Goethe-Zeit war Ariosts Rasender Roland auch im deutschen Sprachraum weit verbreitete Lektüre. Das mag daran gelegen haben, dass die Figur eines außerordentlichen Ritters, der über seiner Arbeit verrückt wird, sowohl dem Genie-Fimmel des Sturm und Drang wie kurze Zeit später dem Bild des Künstlers an der Grenze von Genie und Wahnsinn der Romantik sehr ähnlich sieht. Im 21. Jahrhundert allerdings ist – anders als in den lateinischen Ländern – Ariosts Rasender Roland kaum mehr präsent. Im Buchhandel ist einzig Italo Calvinos Nacherzählung als Fischer Taschenbuch in der Reihe Fischer Klassiker mit der Nummer 90547 in deutscher Übersetzung erhältlich. (Zum ersten Mal in der Anderen Bibliothek als N° 232 erschienen.) Calvino erzählt darin die wichtigen Passagen des Orlando Furioso nach – ursprünglich war das Ende der 1960er gewesen, für eine Radiosendung. Zwischen den einzelnen Blöcken der Nacherzählung stehen immer wieder Ausschnitte aus dem Original. Die deutsche Übersetzung des Textes von Italo Calvino stammt von Burkhart Kroeber (ebenso eine Einleitung und ein Kommentar), für Ariost hat man auf die Versübertragung durch Johann Diederich Gries zurückgegriffen, der die erste Version davon 1804-1808 drucken ließ, eine endgültige Version dann 1812 (eben: die Goethe-Zeit!) – als der nach wie vor besten, so Kroeber. (Die Zeichnungen von Johannes Grützke aus der Ausgabe der Anderen Bibliothek sind im Fischer-Taschenbuch übrigens ebenfalls enthalten – wenn auch ohne Nennung des Künstlers, so weit ich sehe.)

Nach der Lektüre der rund 450 Seiten bin ich nicht einmal böse, dass ich ‚nur‘ eine Nacherzählung gelesen habe. Ariost mäandert in seinem Ritterepos beträchtlich. Er springt von Figur zu Figur (Roland ist keineswegs der einzige, nicht einmal der wichtigste seiner Protagonisten). Die Erzählung setzt ein damit, dass die Sarazenen Karl den Großen in Paris eingeschlossen haben. Schon das zeigt, dass Ariost keineswegs plant, eine genaue Geschichtsschreibung zu liefern – im Gegenteil. Karl der Große gerät zwischendurch zwar auch einmal in sarazenische Gefangenschaft, aber auch das ist nicht das Zentrum der Handlung. Ein solches gibt es nämlich gar nicht. Wilde Kämpfe in verschiedensten Konstellationen, Christen gegen Muslime, Muslime gegen Christen, aber auch Angehörige derselben Religionsgemeinschaft gegeneinander. Gekämpft wird um Frauen, um Pferde, um Rüstungen, um Schwerter – oder auch einfach aus blinder Wut. So wechseln Frauen, Pferde, Rüstungen und Schwerter denn auch fröhlich den Besitzer – man müsste ein Diagramm zeichnen, um den Überblick nicht zu verlieren, was nun in welchem Moment gerade wem ‚gehört‘. Irgendwann wird dann auch der Rasende Roland dazwischen irrlichtern, ein Ritter Karls des Großen, der seinen Verstand verloren hat und nun (eben: ohne Sinn und Verstand) auf jeden einhaut, der ihm in den Weg kommt. Splitterfasernackt rennt er durch die Gegend. Diese wiederum umfasst so ungefähr alles, was die Zeit Ariosts kannte: Könige kommen aus Afrika, Prinzessinnen aus China; man kämpft in Spanien, Frankreich, England, Irland oder Indien (nicht aber, seltsamerweise, auf italienischem Boden). Auch märchenhafte Orte wie verzauberte Inseln fehlen nicht. Den Verstand, den Roland verloren hat, findet ein Freund von ihm wieder – auf dem Mond. Daneben darf ein kräftiger Schuss Magie nicht fehlen: Zauberer und Hexen tauchen auf, verschwinden oder werden auch schon mal erschlagen. Magische Gegenstände wie Schilde, die unsichtbar machen, werden ebenfalls eingesetzt.

Und das ganze Tohuwabohu dient eigentlich nur dazu, dass Ariost in einer waghalsigen Genealogie den Stammbaum der Famile Este (in deren Dienst er stand und die in verschiedenen Städten Italiens tonangebend war) auf den trojanischen Helden Hektor zurück führen konnte. Es hat wohl kein Mensch an diese Genealogie wirklich geglaubt, aber das war zu der Zeit gar nicht nötig – Hauptsache, man hatte eine, die möglichst weit zurück reichte.

Ohne Calvinos Nacherzählung, die zusammenfasst und ordnet, wären heutige Leser:innen wohl in diesem Epos verloren. Und Calvino bringt nicht nur Ordnung in den Text; seine Nacherzählung weist auch jenen Hauch von Ironie auf, ohne den man schon im 20. Jahrhundert selbst in Ariosts Heimat den Text wohl nicht mehr rezepieren konnte.

Somit empfehle ich dieses Buch uneingeschränkt für alle, die sich Ariost Orlando Furioso antun wollen, ohne gleich eine wissenschaftliche Arbeit darüber zu schreiben.

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