Wilhelm Lamszus: Das Menschenschlachthaus / Das Irrenhaus

Vor ein paar Monaten zirkulierte in den Social Media das Gerücht, dem Verlag Hirnkost in Berlin drohe die Insolvenz oder er sei schon insolvent. Auf der Homepage des Verlags fanden sich keine diesbezüglichen Hinweise, aber in der von ihm herausgegebenen Reihe Wiederentdeckte Schätze der deutschen Science Fiction fand sich auch beim nächsten und beim übernächsten Besuch der Seite kein Hinweis auf einen dem Altneuland von Theodor Herzl folgenden Band. Irgendwann wurden dann die Abstände meiner Besuche immer größer. Dann las ich vom Tod des Mitherausgebers der Reihe, Hans Frey, und ließ sie gänzlich sein. Vor kurzem aber nun hatte Klaus N. Frick, seines Zeichens Chefredakteur der deutschen SF-Reihe Perry Rhodan, vermeldet, es sei ein neues Buch in der Reihe erschienen. Dem war tatsächlich so (nämlich das hier zur Besprechung anstehende Menschenschlachthaus), und es findet sich aktuell sogar bereits eine Ankündigung für einen weiteren Band.

Reihe und Verlag scheinen also immer noch zu leben. Und das ist angesichts der vielen Probleme in der deutschsprachigen Verlagslandschaft gut so. Deshalb habe ich auch gleich den neuen Band bestellt.

Nun gebe ich ganz offen zu, dass ich beim Erhalt des Buchs dann doch zusammengezuckt bin. Es ist das bis jetzt vom Umfang her schmalste der Reihe. Die Lektüre hat mich dann auch nicht ganz versöhnen können. Nämlich:

Das Menschenschlachthaus erzählt die Geschichte eines jungen Mannes, der eines Tages zum Krieg eingezogen wird. Genauer schildert er die Schrecken des modernen Kriegs, in dem der junge Soldat sich wiederfindet. Das Buch erschien 1912 und Lamszus verarbeitete darin seine Gedanken, die ihm gekommen waren, als er – warum auch immer – das neueste Maschinengewehr der deutschen Armee besichtigen durfte. Lamszus war zu der Zeit Lehrer und Mitglied einer internationalen pazifistischen Gesellschaft. Sein Buch erlebte mehrere Auflagen auf Deutsch und Übersetzungen in mehrere Sprachen. (Allerdings vermute ich, dass es vieles davon dem pazifistischen Thema zu verdanken hatte, um dessentwillen es wohl innerhalb der pazifistischen Gesellschaft, deren Mitglied sein Verfasser war, auch international weiterempfohlen wurde.)

Dass das Buch nicht vom kurzfristigen Bestseller zu einem Longseller werden konnte, liegt wohl zunächst einmal daran, dass es zu spät erschien. Seine Warnung vor dem modernen Krieg ging in eben diesem unter. Der für 1914 geplante zweite Teil, Das Irrenhaus, das die Erlebnisse eben dieses jungen Mannes im Lazarett schildert, konnte schon gar nicht mehr vor dem Ersten Weltkrieg erscheinen. 1919 aber, als er erschien, war es nicht nur längst zu spät für eine Warnung – und die sehr präzise Ahnung, wie so ein moderner Krieg ablaufen würde bzw. für einen einfachen Soldaten anfühlen würde, war literarisch hinfällig geworden durch noch präzisere Schilderungen, wie der Krieg tatsächlich ablief bzw. sich für die einfachen Soldaten anfühlte. Und wenn Lamszus’ Schilderung des Kriegs auch sprachlich zu beeindrucken vermochte: Die Expressionisten – so sie der Hölle des Kriegs entrinnen konnten – hoben diese Art der Schlachtenschilderung auf ein nochmals höheres Niveau.

Was bleibt, ist ein traurig stimmendes Denkmal eines ‚Zu spät – zu wenig‘. Lamszus vermochte nicht vor dem drohenden Krieg zu warnen, umso weniger, als er selber offenbar nicht im Geringsten daran geglaubt hatte, dieser würde so nah vor der Tür stehen. Als literarisches Denkmal aber befriedigen die beiden Romane auch nicht.

Der Hirnkost Verlag hat den beiden wirklich kurzen Romanen noch die jeweiligen Vorworte der Zeit vorangesetzt (darunter, beim zweiten, jenes von Carl von Ossietzky), weitere Texte von Lamszus, zeitgenössische Rezensionen und weitere Vor- und Nachworte aus dem 21. Jahrhundert – und dennoch ist dieser Band nur auf knappe 240 Seiten gekommen.

Aber nicht weil es so schmal ist, prangere ich die Existenz dieses Buchs an, sondern weil es eigentlich nur ganz notdürftig überhaupt in die Reihe gehört, in der es vom Verlag angesiedelt wurde. Jedenfalls in meinem Verständnis. Unter ‚Science Fiction‘ verstehe ich nämlich eine Form fiktionalen Erzählens, die – in irgend einer Art und Weise – mit seinem Schwerpunkt auf einer wissenschaftlichen Entwicklung beruht, die zum Zeitpunkt des Schreibens noch unbekannt ist und / oder für unmöglich gilt. Das ist hier nicht der Fall, denn das inkriminierte Maschinengewehr gab es ja schon. Die vor allem in den 1950ern und 1960ern im Deutschen gern verwendete Umschreibung des Genres mit ‚Zukunftsroman‘ ist angesichts der sehr kurzen Zeit zwischen Roman und dessen Umsetzung in die Realität eigentlich auch sinnlos. ‚Utopische Romane‘, ebenfalls in jenem Zeitraum gern verwendet, beruht auf einer Aufblähung des Begriffs ‚Utopie‘. Ursprünglich war eine ‚Utopie‘ die Schilderung eines Staatswesens, das – warum auch immer – besser sein sollte, als was die Gegenwart der Schreibenden aufzuweisen hatte. Fiktionalisierte Staatsphilosophie bzw. fiktionalisierte politische Philosophie also. ‚Dystopie‘ (der Begriff, der auf Lamszus’ Romane angewendet wird) ist die Negation der ‚Utopie‘, also die fiktive Beschreibung eines schlechten Staats. Die genaue Staatsform des Deutschland, das hier mit Frankreich und Russland in Krieg gerät, spielt aber in Lamszus’ Romanen absolut keine Rolle. (Ja, er war Reformpädagoge, eine Zeitlang Mitglied einer sozialdemokratischen, später dann auch einer kommunistischen Partei. Aber in diesen beiden Romanen spielt die politische Verfassung der kriegsführenden Staaten keine Rolle. Dass er glaubte, dass deutsche und französische Pazifisten an der Front eine Art Privatfrieden schließen würden, war ebenso naiv wie in der Realität der Glaube der Führer der Arbeiterbewegungen auf beiden Seiten, dass die Arbeiter nicht auf einander schießen würden.)

Einen Grund, die beiden Romane zu lesen, gibt es allerdings: Das Buch ist ein Mahnmal einer gescheiterten Friedensbewegung – gescheitert auch daran, dass der Lehrer Lamszus mit seiner Anspielung auf Aischylos im Titel des ersten Romans, mit weiteren Anspielungen auf Goethes Faust, auf Kant oder Herder, tatsächlich wohl niemand erreichen konnte jenseits der wenigen intellektuellen Pazifist:innen, die das Thema sowieso schon gepackt hatte.


Wilhelm Lamszus: Das Menschenschlachthaus. Bilder vom kommenden Krieg. Berlin: Hirnkost, 2024.

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