Margret Wittmer: Postlagernd Floreana

Was wirkt wie ein Vexierbild, ist in Tat und Wahrheit eine um 90° im Gegenuhrzeigersinn gekippte Fotografie, die so für den vorderen Buchdeckel verwendet wurde. Sie ist im Original schon recht unscharf. Man siehr darauf einen mit braunen Pflanzen bewachsenen Berg, eigentlich eine Insel. Das Land spiegelt sich im blauen Meer, wo sich auch ein paar rosa Flamingos aufhalten. Im gewählten Ausschnitt sieht man also von links nach rechts ein kleines Stück blauen Himmels; den Rest der linken Seite nimmt dann die braune Insel ein. Das Meer rechts grenzt sich scharf ab, zuerst blau-rot, dann nur noch rot. Im roten Teil des Meers ein leuchtend-rosa Flamingo, der gerade den Kopf ins Wasser steckt. Er spiegelt sich im Wasser, was ihn im gekippten Bild fast wie eine Art Kussmund ausschauen lässt.

August 1930: Heinz und Margret Wittmer treffen zusammen mit Harry, Heinz’ Sohn aus erster Ehe, auf Floreana ein. Floreana, das ist die südlichste der Galapagosinseln, so südlich in der Tat, dass Charles Darwin sie seinerzeit gar nicht erst besucht hatte. Politisch gehört sie zu Ecuador. Aber 1930 kümmert sich dieser Staat nicht groß um diese seine Inseln. Es bestehen noch keine Restriktionen für Einwanderung bzw. Ansiedlung, dennoch wohnen dort kaum Menschen. 1930 hat Floreana der Familie weder Strom noch sonstige Annehmlichkeiten zu bieten. Selbst die Briefpost funktioniert archaisch. Es gibt in einer Bucht eine Tonne, vor langer Zeit von Walfängern angelegt, die auf der Insel überwinterten. Diese wird von vorbeikommenden Schiffe geleert bzw. für die Insulaner bestimmte Post hinein gelegt. So können Briefe von und nach Floreana gut und gern mal ein halbes Jahr oder länger unterwegs sein.

Vor mir liegt die Ausgabe von Postlagernd Floreana, wie sie dieses Jahr (2024) bei der Büchergilde erschienen ist, und zwar in der Reihe BÜCHERGILDE UNTERWEGS. Die Herausgeberin der Reihe, Julia Finkernagel, nimmt hier den Begriff ‚unterwegs‘ nicht zum ersten Mal in einem sehr weiten Sinn. Die meisten Bücher der Reihe sind zwar Reiseberichte, aber sie subsumiert in diese Reihe auch quasi-philosophische Gedanken über das Reisen oder gar Reiseromane. Auch das ist hier ist nun weniger Reisebericht als Autobiografie, denn wir bleiben mit der Familie Wittmer über rund zwei Dekaden auf dieser Insel und verlassen diesen Ort nur selten für Abstecher nach Köln oder Quito in den späteren Jahren.

Natürlich muss man diese Familie, diese Frau, bewundern, wie sie in den 1930ern, bei Null anfangend, ihr Leben auf Floreana aufbaut. Sicher, sie hatten, ähnlich wie Robinson, ein paar Dinge aus der Zivilisation dabei – und sie waren weder die ersten Bewohner der Insel noch zum Zeitpunkt ihrer Ankunft die einzigen. Der Berliner Arzt Friedrich Adolf Ritter und seine Lebensgefährtin, die Lehrerin Dore Koerwien, lebten schon seit ein paar Jahren auf Floreana – Zivilisationsflüchtlinge („Aussteiger“) der ersten Stunde. Angeregt (zumindest Ritter) durch etwas allzu intensive und unverstandene Lektüre von Nietzsche und Lao-Tse, predigten sie unter anderem den Verzicht auf Alkohol, Nikotin, Kaffee, Getreide- und Milchprodukten sowie Fleisch. (Einigermaßen entsetzt und überrascht sollte Margret Wittwer allerdings im Laufe der Bekanntschaft feststellen, dass sie sich selber, vor allem beim Fleisch, nicht an ihre gepredigten Grundsätze hielten.)

Später sollten noch weitere Einwohner auftauchen: Anführerin war eine Frau, die sich als österreichische Baronin ausgab. Begleitet wurde sie von zwei Männern deutscher Herkunft, die beide offenkundig in intimer Beziehung zur „Baronin“ standen: Rudolf Lorenz und Robert Philippson aus Berlin. Anfangs gehörte auch noch ein ecuadorianischer Dienstbote namens Manuel Valdivieso zu dieser Gruppe, der die Insel jedoch bald wieder verließ. Diese „Baronin“ war eine noch unbequemere Nachbarin als Ritter und Koerwin es schon gewesen waren. Sie wollte auf Floreana ein Luxushotel errichten (das wäre damals noch erlaubt gewesen) und betrachtete sich offenbar als Herrscherin der Insel. Die Geschichte eskalierte: Lorenz und Philippson gerieten in Streit. Dann verschwanden die „Baronin“ und Philippson, um nie wieder gesehen zu werden. Einige Zeit später starb Ritter an einer Lebensmittelvergiftung. Ob Koerwin verdorbene Hühnchen servierte, um ihn umzubringen, konnte nicht ermittelt werden. Das Ganze fand (und findet bis heute) den Weg in die Boulevard-Presse, später auch zum Film. Selbst zu einem eigenen Artikel auf Wikipedia hat sie es gebracht (s. dort: Galápagos-Affäre).

Wittmer erwähnt diese Geschichte natürlich in ihrer Autobiografie. Das führte, nebenbei, Julia Finkernagel dazu, in der Einleitung zum Buch davon zu schreiben, dass der Bericht auch Züge eines Kriminalromans angenommen habe. Nun, ich mag es nicht, wenn Definitionen von fiktiven Texten auf reale Ereignisse übertragen werden. Ritter, Koerwin oder die „Baronin“ mögen für die deutsche Familie Wittmer sehr unangenehme Zeitgenossen gewesen sein – es waren Menschen und keine fiktiven Gestalten, die man ab- und ausschlachten kann, wie man gerade will.

Aber nicht darauf wollte ich jetzt kommen. Selbst Finkernagel, die in ihrem Vorwort sehr enthusiastisch die riesige Arbeit würdigt, die vor allem Margret Wittmer in den Anfangszeiten auf der Insel zu bewältigen hatte, fast ohne die Hilfsmittel der Zivilisation – selbst Finkernagel also muss zugeben, dass Wittmers Text Lücken aufweist. Wir erfahren zum Beispiel nie, warum denn nun die Familie auswandert. Die Aussage im oben genannten Wikipedia-Artikel, dass die Wittmers versuchten, der Wirtschaftskrise in Deutschland zu entfliehen, und sich auch erhofften, dass sich durch das Klima eine Verbesserung des Gesundheitszustandes von Harry Wittmer, der an Lungen- und Augenkrankheiten litt, ergeben würde, ist genau gesehen nur eine Vermutung, die sich durch Wittmers Autobiografie allenfalls für Harrys Krankheit erhärten lässt (aber zum Auskurieren hätte es sicher bessere Orte gegeben als dieser einsame Fleck auf der Landkarte, wo jede medizinische Versorgung fehlt – Harry wird denn auch kaum Besserung erfahren). Tatsache ist, dass der Bericht mit der Anlandung auf Floreana einsetzt und mit einem kurzen Rückblick dann nur die Reise bis dorthin beschreibt. Margret Wittmer sagt mit keinem Wort, warum ihre Familie auswanderte. Es könnte auch sein, dass ihr Mann Heinz, der im Sekretariat des damaligen Oberbürgermeisters Adenauer in Köln arbeitete, mit den bereits dominierenden Nazis in Konflikt gekommen war. Ein bisschen mehr als Wirtschaftskrise und Klima wird es schon gewesen sein. Immerhin erfahren wir auch – viel später allerdings, im aktuellen Moment müssen wir Lesenden es uns selber ausrechnen –, dass Margret bei der Überfahrt nach Floreana bereits schwanger ist. Es muss entweder bodenlose Gedankenlosigkeit gewesen sein, die sie trotzdem auswandern ließ, völlig übertriebenes Vertrauen in die ärztlichen Fähigkeiten Ritters (wie es sich herausstellte, sollte er sich überhaupt weigern, als Arzt zu fungieren) oder ein wirklich dramatisches Ereignis im Vorfeld – von dem wir als Lesende aber nie etwas erfahren.

Aber auch die Einstellung der Wittmers zu den Nazis bleibt im Text sehr vage; auch hier laviert Margret um eine genaue Stellungsnahme herum. Sie bedauern den Kriegsbeginn – aber Heinz meldet sich freiwillig als Soldat. (Er wird nicht angenommen – zu weit weg wohl und zu wenig interessant ist der alte Mann.) Mit der Ausweitung des Kriegs zu einem wirklichen Weltkrieg hatten sich nun auch die USA und Ecuador für die Galapagosinseln zu interessieren begonnen und unter anderem kleine Garnisonen auf Floreana installiert. Als Heinz Wittmer vom Kommandanten der US-Amerikaner nach seiner Einstellung zu den Nazis gefragt wird, macht er – gemäß Niederschrift seiner Frau – einen Unterschied zwischen Hitler und Deutschland. Für letzteres schlage sein Herz nach wie vor. Anders als andere deutsche Siedler auf anderen Inseln, dürfen die Wittmers (die unterdessen zwei gemeinsame Kinder haben) auf ihrer Insel bleiben. Erst als der Zweite Weltkrieg vorbei ist, gibt Margret aber in einem Nebensatz zu, dass sie im Grunde genommen ganz einfach dort interniert waren. Sie so zu internieren war für die Garnison insofern ganz praktisch, als die deutsche Familie – zwar gegen Bezahlung – Produkte ihrer landwirtschaftlichen Tätigkeit lieferte. Dass man sie offenbar durchaus der Sympathien nicht nur für Deutschland, sondern auch für Nazi-Deutschland verdächtigte, zeigen meiner Meinung nach zwei Ereignisse, die von Margret Wittmer als harmlose, fast lustige Zwischenfälle geschildert werden. Eines Tages, so erzählt sie, stirbt der Hund, den sie noch als Welpen aus Deutschland mitgenommen hatten. Weil sie den Gedanken nicht ertrugen, dass dessen Kadaver von wilden Tieren ausgebuddelt und gefressen würde, verbrannten sie ihn. Das gab ziemlichen Rauch – und genau deshalb war offenes Feuer auf der Insel vom Militär verboten worden. Der ecuadorianische Kommandant, der sie deswegen aufsuchte, konnte ihnen nur sagen, er hoffe, dass in den nächsten zwei Tagen kein deutsches U-Boot auftauche. Es kam dann tatsächlich keines, und Margert Wittmer gibt sich erleichtert deswegen. Aber waren Wittmers wirklich so naiv, wie sie sich hier darstellt? Auch noch einige Zeit nachdem der Zweite Weltkrieg zu Ende war, blieben ecuadorianische Truppen auf der Insel. Eines Tages nun erlebte die deutsche Familie, wie einige Soldaten und der Kommandant sich durch die gegen Wildtiere gezogenen Stacheldrahtzäune hindurch gezwängt hatten und das Haus von hinten betraten. Was war geschehen? Es hatte sich das Gerücht gebildet, dass Adolf Hitler nicht in Berlin gestorben sei sondern sich nach Floreana durchgeschlagen hätte. Auch hier war offenbar das Vertrauen der Ecuadorianer in Ehrlichkeit und feste antifaschistische Gesinnung der Deutschen nicht gerade groß. Wie es der Familie gelang, während des Kriegs sowohl US-amerikanische Freunde mit Beziehungen zu höchsten Stellen zu gewinnen (so hohen Stellen in der Tat, dass sogar Präsident Roosevelt sie auf ihrer Insel besuchen wollte – erzählt zumindest Margret Wittmer), wie auch welche mit guten Beziehung zu den deutschen Behörden wird auch nie so richtig erklärt. Sie sind einfach plötzlich da. Und schleppen dann, nach Kriegsende, weitere große Namen an: Thor Heyerdahl, Felix Graf von Luckner (ja, den, der das Zerreißen von Telefonbüchern in Mode brachte), Hans Hass, Irenäus Eibl-Eibesfeldt und andere mehr. Doch in den 1950ern war das primitive Leben auf der Insel schon Vergangenheit.

Wer gern Robinsonaden liest, wird hier sicher gut bedient. Für Lesende von Kriminalromanen ist der Text eher ungeeignet, trotz anderer Aussagen Julia Finkernagels. Wer allerdings gern in inhaltlichen Löchern eines Textes herumbohrt, kommt hier auf die Kosten.

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