Was ist das Resultat, wenn ein nur mäßig begabter Romancier von Weltruf sich bemüßigt fühlt, für den einzigen und bestenfalls mäßig gelungenen Roman eines anderen Autors von Weltklasse eine Fortsetzung zu schreiben? Richtig: ein so ziemlich misslungener Roman, nämlich Die Eissphinx. Dieser Roman von Jules Verne stellt eine Art Fortsetzung dar des Romans The Narrative of Arthur Gordon Pym von Edgar Allan Poe. Verne geht dafür davon aus, dass nicht nur Pym nicht gestorben ist, wie Poe erzählt, sondern auch die Besatzung des Schoners Jane zumindest teilweise überlebt hat bzw. überlebt haben könnte.
Erzählt wird die Geschichte in Ich-Form von einem US-Amerikaner, der wie Pym aus Connecticut stammt, zu Beginn der Erzählung sich aber für botanische Studien auf den Kerguelen befindet, wo er sich die Wintermonate über aufhielt, nun aber nichts wie weg möchte. Er heißt Jeorling und ist im Grunde genommen einfach ein reicher Nichtstuer. Jedenfalls erleben wir ihn die ganzen 460 Seiten des Romans bei keinerlei Tätigkeit oder Studium, wenn wir von der Lektüre von Poes Roman absehen.
Er erreicht, dass ihn der Kapitän des Schoners Halbrane, Len Guy (den Namen erfährt er aber erst unterwegs), als Passagier aufnimmt, obwohl er zunächst ausgeschlagen hatte, weil er nie Passagiere mitnehme. Ebenfalls erst unterwegs erfährt Jeorling auch den Grund, warum ihn Len Guy doch mitgenommen hatte: Der Kapitän hatte zufällig erfahren, dass Jeorling eben so aus Connecticut stammt wie Arthur Gordon Pym. Jeorling, der Pym für eine Erfindung Poes hält, ist überrascht, dass Len Guy fest davon überzeugt ist, Pym sei ein lebender Mensch und Jeorling habe sicher mit seinen Eltern in Nantucket Kontakt gehabt. Nur deswegen hat er ihn an Bord genommen, denn es stellt sich heraus, dass Len Guy der Bruder des Kapitäns der Jane ist, mit der sich Pym und sein Gefährte Peters zumindest vorübergehend gerettet hatten. Das Schiff ging später auch unter, und nur Pym und Peters fanden nach Hause – so jedenfalls bei Poe. (Dass Len Guy sein Ziel effizienter und ohne sich mit einem Passagier zu belasten hätte erreichen können, wenn er mit Jeorling in der einzigen Kneipe auf den Kerguelen an einem Abend einen Whisky oder zwei getrunken hätte, scheint für Verne keine Rolle zu spielen.)
Jedenfalls ist es so, dass der Kapitän der Halbrane fest davon überzeugt ist, dass sein Bruder William noch lebt; während Pym nicht, wie Poe erzählt, ruhig in Nantucket gestorben ist, sondern man nichts über seinen Verbleib wisse. Nun ist Len auf der Suche nach seinem Bruder. Warum er dafür aber nicht direkt von den doch schon recht nah an der Antarktis gelegenen Kerguelen nach Süden segelt, sondern Umwege macht, bleibt unerklärt. Aber er besucht zunächst die Insel Tristan da Cunha*) und danach noch die Falkland-Inseln, bevor er wirklich Richtung Antarktis fährt.
So in etwa die Ausgangslage, und daraus könnte ein ganz spannender Abenteuerroman entstehen – wenn Verne seine Personen straffer führen könnte und nicht ständig sein enzyklopädisch angelesenes Wissen ausbreiten müsste, wer von welchen Kapitänen (er nennt Bougainville, Cook, Krusenstern und viele andere) wann wie weit südlich vorgedrungen sei (auf die Minute genau!). Auch widmet er ein ganzes Kapitel der – Nacherzählung von Poes Roman. Den ersten wirklich spannenden Moment erleben wir auf Seite 305 – und selbst da vergibt Verne seine Chance, indem er ihn von seinen Figuren zerreden lässt. Dass er dann bei aller vorgeblichen wissenschaftlichen Präzision die Besatzung der Halbrane nicht nur Pinguine sondern auch einen Eisbären schießen lässt, passt wie die Faust aufs Auge zu dieser zur Schau gestellten Wissenschaftlichkeit.
Ein wenig spannender Roman mit so einigen logischen Löchern – kaum lesenswert also.
Wenn da nicht …
Wenn da nicht das Nachwort wäre von Pascal-Emmanuel Gallet in der von mir gelesenen Ausgabe (Le Livre de Poche, n° 2056). Gallet nämlich geht davon aus, dass es das Ziel Vernes gewesen sei, die phantastisch-romantische Geschichte von Edgar Allan Poe auf ein rational-aufgeklärtes, ergo realistisches Maß zurück zu binden. Deshalb sind bei ihm die beim US-Amerikaner subtropisch fruchtbaren Inseln nahe der Antarktis nur wüste Einöden. Deshalb taucht Pyms Hund Tiger bei Verne auf einer dieser Inseln wieder auf, während ihn Poe irgendwo bei Pyms Schiffbruch vergessen hat. (Dass das bei Verne wiederum bedeutet, dass jene vier Überlebenden auf dem Floss den Hund dabei gehabt haben müsste, aber dennoch lieber einen der ihren opferten um zu überleben. Aber vielleicht wollte Verne damit auf dieses riesige logische Loch in der Handlung bei Poe hinweisen? Schließlich ist es Tiger, der abermals und diesmal endgültig tollwütig wird und die ganzen Bewohner der Insel Tsalai vertreibt. Und ebenso ist es dieser Akt von Anthropophagie, der zum einzigen wirklichen Handlungstreiber wird bei Verne, dem einzigen Motiv, das einige seiner Figuren zu ihren sinnlosen Akten verführt.) Deshalb vielleicht aus das übertriebene Beharren auf den Listen mit Südpol-Fahrern? Das Ganze also eine Art Parodie auf Poe (der ja, dank Baudelaires Übersetzung in Frankreich gerade zu einem der großen literarischen Stars geworden war)? Deshalb vielleicht auch das allzu übertrieben wirkende Happy Ending, indem doch noch ein paar Leute der Jane, William Guy inklusive, gerettet werden konnten? Ich finde die Idee faszinierend, aber so ganz rettet sie den Roman Jules Vernes halt doch nicht.
Zum Schluss nämlich brennt auch bei Verne der phantastische Gaul durch. Auf ihrem Weg nach Hause finden die Überlebenden diverser Schiffbrüche eine Gestalt, die von weitem aussieht wie eine Sphinx aus Eis. Beim Näherkommen entpuppt sie sich als riesige Gesteinsformation, die zudem noch über ein ungeheuer starkes Magnetfeld verfügt – so stark in der Tat, dass alle eisernen Nägel, mit denen die Bootsplanken zusammen gehalten wurden, ausgerissen werden, alle eisernen Waffen den Reisenden aus den Händen und von den Kleidern gerissen werden.
Hier wird Verne (und ich bin überzeugt: unfreiwillig!) komisch, denn die Überlebenden finden Arthur Gordon Pym (bzw. seine ausgetrocknete Leiche) an die Sphinx fixiert, weil sich sein Gewehr in seiner Kleidung verhakt hatte und er so mitsamt dem Gewehr an die Sphinx geschleudert wurde – so nämlich, dass er zwischen dem Stein und dem Gewehr eingeklemmt blieb.**)
Als Pastiche auf Poes Gordon Arthur Pym allenfalls lesenswert, ansonsten hat selbst Verne Besseres geschrieben.
*) Das ist, nebenbei, die Insel, auf der Arno Schmidt Die Insel Felsenburg von Johann Gottfried Schnabel verortet hat. Ich bin kein Spezialist für Arno Schmidt, möchte aber beinahe wetten, dass er von dieser Insel zum ersten Mal als Jugendlicher bei der Lektüre von Jules Verne gehört hat.
**) Es gibt eine Folge der US-Krimiserie Monk, in der ebenfalls ein äußerst starker Magnet eingesetzt wird, um einen Mann umzubringen, indem man den Elektromagneten (der, sagt man, ein Auto anheben könnte) dazu verwendet, von unten seine Hantel, an der er gerade in seinem privaten Fitness-Raum übt, nach unten zu ziehen und so dem Opfer die Luftröhre zerquetschen zu lassen.