Jules Verne: L’île à hélice [Die Propellerinsel]

Aus einem Rahmen, der wie ein alter Buchdeckel stilisiert ist, schauen wir durch ein rundes Loch auf eine (offenbar fliegende) Insel, die mit jeder Menge moderner Hochhäuser überbaut ist. Wir sehen nur einen Ausschnitt aus dem Buchcover.

Von den Romanen Jules Vernes, die ich gelesen habe, ist nicht jeder, was ich „spannend“ nennen würde. Es hat aber noch jeder einen Punkt aufzuweisen, der ihn für meine Begriffe zumindest „faszinierend“ erscheinen lässt. (Zugegeben: Ich habe bei weitem nicht alle Romane dieses Vielschreibers gelesen, nicht einmal alle berühmten.) Auch finde ich Vernes Imagination in seinen Science Fiction-Werken und seinen phantastischen Romanen nicht so bewundernswert, wie Ionesco, dessen Aussage: Jules Verne war der letzte seherische Schriftsteller. Was er ersann, ist Wirklichkeit geworden., ich schon einmal zitiert habe. Verne ist im Gegenteil das klassische Beispiel eines Autors, der Science Fiction schreibt, indem er bereits existierende oder zumindest diskutierte Phänomene ins Riesenhafte vergrößert – wie seinerzeit Lem einen großen Teil der Science Fiction definiert hat.

So könnte man nun behaupten, Verne habe mit seiner Propellerinsel das moderne Kreuzfahrtschiff vorhergesehen. Tatsächlich schildert er eine riesige stählerne Konstruktion, die schwimmfähig ist, einer Aktiengesellschaft gehört, die auf der Insel Wohnraum vermietet, während diese in der Südsee von Insel zu Insel schippert. Sie verfügt über einen Kapitän, einen Maître de plaisir und eine Art von der Aktiengesellschaft ernannten Oberaufseher, der das Ganze leitet und letztendlich über den Kurs der Insel entscheidet. Nur sieht Vernes Konstruktion nicht wie ein Schiff aus sondern tatsächlich wie eine Insel. Will sagen: Sie besteht aus riesigen Stahlplatten, die auf riesigen Pontons zusammen geschweißt wurden, bis die Fläche einer durchschnittlichen Kleinstadt erreicht war. Der Wohnraum wird nicht in Form von Kabinen zur Verfügung gestellt sondern in Form von auf dieser Insel errichteten Häusern. Sogar Parks gibt es auf Vernes Konstruktion. Das ganze wird von zwei (ebenfalls riesigen) Elektro-Motoren angetrieben. (Der Verbrennungsmotor war damals nicht viel mehr als ein Spielzeug von ein paar Spinnern. Man sah die Zukunft der nicht auf animalischer Kraft beruhenden Fortbewegung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in der Elektrizität.) Anders als heutige Kreuzfahrtschiffe, auf denen schon bald alle Welt schon gereist ist, bleibt Vernes Insel nur Milliardären zugänglich. Da die Aktiengesellschaft in den USA beheimatet ist, sogar nur US-amerikanischen Milliardären.

Die Insel ist von Anfang an in zwei unterschiedliche Hälften aufgeteilt. Die eine ist architektonisch nüchtern, die andere überladen; die eine ist protestantisch, die andere katholisch; in der einen leben die Milliardäre aus dem Norden der USA, in der anderen die aus dem Süden. (Weshalb Verne den US-amerikanischen Süden katholisch macht, weiß ich nicht.)

So weit die Präliminarien.

Erzählt wird die Geschichte aus der Sicht eines weltberühmten französischen Streichquartetts, das auf dem Weg von San Francisco nach San Diego vom Maître de plaisir der Insel sozusagen entführt wird. Denn wie jedes echte Kreuzfahrtschiff bietet auch die Propellerinsel ein Unterhaltungsprogramm, und zu dem sollen die vier nun beitragen. Sie werden fürstlich bezahlt und stimmen zu.

Viel mehr als dass im Programm der vier offenbar vorwiegend Wiener Klassik figuriert (Mozart, Beethoven und Haydn werden des öfteren erwähnt, dann noch Mendelssohn ein oder zwei Mal), erfahren wir nicht über ihre Musik. Aber die vier erfüllen für den Autor eine doppelte Funktion. Zum einen sind sie ja neu auf der Insel; sie werden dementsprechend durch ihren Führer und Entführer, den Maître de plaisir, darauf herumgeführt und mit ihnen lernen auch wir Lesenden die Insel kennen. Später dann, wenn die Südsee-Inseln erreicht sind, erweist sich der eine der vier als äußerst wissbegierig und lässt sich vom Kapitän allerhand Fakten aus der Geografie, der (Kolonial-)Geschichte und der Ethnologie der Gegend erzählen, oder dann erleben wir ihn, wie er sein frisch erworbenes Wissen an seine Musikerkollegen weiterleitet. Die sind bedeutend weniger interessiert, und das gibt dem Autor Raum für ein paar mehr oder weniger komische Szenen – wie überhaupt das Quartett auch für den ‚comic relief‘ zuständig ist. Nebenbei: Dass die geschichtlichen und ethnologischen Wissensbrocken dem damaligen Stand der Wissenschaft entsprechen, spricht einerseits für Verne, führt aber andererseits auch dazu, dass sie aus heutiger Sicht, weil kolonialistisch und rassistisch, schwer zu verdauen sind. Verne zieht aus den damaligen Ansichten Stoff für seine Komik, indem er eben jenen Musiker, der so gern über allerhand Wissenswertes informiert und informiert wird, auch bei jedem Anlegen an einer Insel nach Kannibalen suchen lässt. Er will nur solche Indigene als ‚echt‘ gelten lassen, die noch ‚Menschen fressen‘. Als sie dann endlich auf welche treffen, wird ausgerechnet er von ihnen gefangen genommen und schon mal vorgeröstet. Selbstverständlich retten ihn seine Freunde rechtzeitig, aber hier sind Vernes Ansichten über das rituell genau definierte Verzehren von Menschenfleisch ebenso krude wie die über die Funktion des Tabu.

Neben Komik versucht sich Verne in diesem Roman natürlich auch an Spannung. Um diese zu erzielen, verwendet Verne zwei sich parallel entwickelnde Handlungsstränge – wohl nach dem Motto: Doppelt genäht hält besser. (Was bei ihm leider nicht der Fall ist.) Da ist zum einen eine Gruppe von Malaien, die aus einem vermeintlichen Schiffbruch gerettet wurden und die in ihre Heimat zurückzutransportieren man versprochen hat. Tatsächlich aber wollen diese Leute nur erreichen, dass sie zu Hause mit der dort lagernden Verstärkung die Propellerinsel erobern und plündern können. Das wird, typisch für Verne, vom auktorialen Erzähler schon früh angedeutet und nachgerade zerredet – Spannung kommt so keine auf. Der andere Handlungsstrang besteht darin, dass die Bewohnenden der beiden Inselhälften es im Grunde genommen gar nicht miteinander können. Das wird zum Problem, als die Betreibergesellschaft der Insel Konkurs geht und die Milliardäre beschließen, die Insel auf eigene gemeinsame Regie zu betreiben. Der ursprüngliche Oberaufseher der Aktiengesellschaft bleibt in seinem Amt und es gelingt ihm zunächst, die Streithammel auseinander und in Frieden zu halten. Aber er kommt beim Angriff der Malaien um. Im Streit um seine Nachfolge wählt jede Seite den jeweils reichsten Milliardär aus den eigenen Reihen. Die Insel ist lahm gelegt. Aber es kommt noch schlimmer: Während die einen nach Norden wollen, um aus der Insel eine Handelsgesellschaft zu machen, wollen die andern nach Süden, um weiterhin in der Wärme ihrer Ruhe zu pflegen. Die beiden Schiffsmotoren befinden sich in je einer Hälfte. Steuerbord gibt den Befehl, nach Norden zu steuern, Backbord richtet den Motor nach Süden. Der über den Parteien stehende Kapitän ist machtlos, weil das die Motoren betreuende Personal nicht auf ihn sondern auf den jeweiligen Teil-Befehlshaber hört. Die Insel beginnt, sich immer schneller um die eigene Achse zu drehen, bis sie auseinander bricht. Einige Überlebende, darunter unser Streichquartett, werden glücklicherweise auf den ihnen verbliebenen Trümmern der Insel nach Neuseeland getrieben.

Was ist nun das Faszinierende an diesem Roman Vernes? Jedenfalls nicht die Darstellung der Briten als kaltherzige Dummköpfe. Nein, es sind die Momente recht früh im Text, in denen Verne den vier Musikern und damit uns durch den Maître de plaisir die Insel präsentieren lässt. Da erscheint diese Insel für einen Moment leibhaftig vor unseren Augen. Daraus hätte sich mehr machen lassen.

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