Der Hauptaugenmerk liegt dabei auf dem frühen Christentum: Nach Konstantins fataler Entscheidung, das Christentum zur Staatsreligion zu erklären, dauerte es nur wenige Jahrzehnte, bis die auf diese Weise an die Macht gelangten Christen in einem fast unglaublichen Furor jedwede Kunst, Philosophie, Literatur vernichteten – und nach Möglichkeit die Träger derselben dem Tod überantworteten. Hassprediger (= Kirchenväter und Heilige) wie Johannes Chrysostomos, Hieronymos oder der durch seinen Einfluss vielleicht schlimmste Vertreter, Augustinus, ließen nichts unversucht, alle Spuren möglichen „Heidentums“ zu vernichten (und das war schlicht alles, das nicht dem gerade als orthodox betrachteten Christum entsprach – selbstredend auch diverse Häresien, die da so Ungeheuerliches wie eine bloße Gottähnlichkeit – statt der geforderten Gottgleichheit – zu behaupten wagten). Keineswegs bloße Kollateralschäden weniger fanatisierter Gläubiger, sondern explizit ausgesprochen und angeordnet, um den Pöbel gegen alles, was nur irgend mit Geist, Kultur, Philosophie zu tun hatte, aufzubringen und deren Vernichtung zu bewerkstelligen.
Man erinnert sich noch an den weltweiten Aufschrei ob der Barbarei des IS, als dieser in abgrundtiefer Dummheit und blindem Glaubenseifer religiöse Symbole meinte vernichten zu müssen: Darunter waren nicht wenige, die diesem Angriff nur zum Opfer fallen konnten, weil sie den ersten Bildersturm durch die Christenheit vor rund 1500 Jahren geradeso überlebt hatten. Und man vergisst auch immer, dass das heute propagierte, aufgeklärte Christentum ein solches wider Willen ist: Noch vor 60 Jahren wurde die Demokratie als Staatsform ausdrücklich abgelehnt, alle Aufklärung musste sich der brutalen Maßnahmen der Kirchen erwehren, die kein Interesse an Bildung oder gar eigenständigen Denken hatte: Nicht zufällig war die Analphabetismusrate in Europa im 19. Jhdt. ausgerechnet im Kirchenstaat sehr hoch.
Über 90 % des Schrifttums der Antike wurde auf diese Weise zerstört, die Bibliothek von Alexandria vernichtet (nebenher Hypatia zu Tode gefoltert: Frau und Intellektuelle waren für den Mob ein unerträglicher Affront), ebenso wurden fast sämtliche Kunstwerke zerstört (so denn die entsprechenden Mittel zur Verfügung standen, konnte man doch noch nicht auf Sprengstoff wie beim IS zurückgreifen) oder aber für die eigenen Zwecke missbraucht: Als Baumaterial bzw. – wenn Statuen der Wut all zu großen Widerstand leisteten – wenigstens den Figuren Nasen, Ohren, Geschlechtsteile (so etwas nur darzustellen zeugte schon Verworfenheit) abgeschlagen und ihnen ein Kreuz in die Stirn gemeißelt.
Alles lange her und schon dadurch nicht mehr relevant? Die Verbrecher von damals stehen auch noch heute hoch im Kurs: Kirchenväter wie Augustinus, Heilige wie Martin von Tours (ja, der mit dem Mantel), der allein für die Zerstörung unzähliger Kulturschätze in Frankreich verantwortlich zeichnet oder der Abt und brutale Verbrecher Schenute, der wie die anderen das ökumenische Heiligenlexikon ziert. Gerade dieser Heiligenkalender ist ein Verbrecherlexikon der besonderen Art: Kaum jemand, der für seine Taten heute nicht lebenslänglich im Gefängnis sitzen müsste.
Schenute verdient nicht nur ob seiner Brutalität, seines Überwachungsfanatismus‘ besondere Aufmerksamkeit. Er nahm für sein Tun eine für das Christentum paradigmatische Rechtfertigung in Anspruch: „Für die, die Christus haben, gibt es kein Verbrechen“. Ähnlich ließ sich auch Kirchenvater Augustinus vernehmen, der Folter und Mord durch die übergroße Milde und Sorge der Täter rechtfertigte: Sie würden schweren Herzens ihren Pflichten genügen, die jedoch nur zum Besten seien für die Betroffenen – weil das einzige Mittel, um den Delinquenten die ewige Seligkeit zu garantieren.
Argumente, die die Kirche in all den Jahrhunderten der Hexenverbrennungen, Pogrome und Verfolgung Andersdenkender nicht müde wurde zu wiederholen. Und deren Täter noch heute in hohen Ehren stehen, um Hilfe und Beistand angefleht werden (wenn sich auch die Frage stellt, in welcher Weise Verbrecher, Mörder den um – welche? – Hilfe Bittenden da beistehen sollen). Die Kirche, die Christenheit insgesamt hat sich ihrer kriminellen Vergangenheit nie gestellt, sie hat sich gerade mal dazu herab gelassen zu bekennen, dass sie im Prozess gegen Galileo Galilei nicht vollkommen im Recht gewesen zu sein (instruktiv dafür dieser Text: https://www.kath.ch/newsd/kirche-hielt-sich-enger-an-vernunft-als-galileo-galilei/. Hier liest man unter anderem: „Papst Johannes Paul II. erinnerte 1979 vor der päpstlichen Akademie der Wissenschaften daran, dass Galileo Galilei «durch Personen und Organisationen der Kirche viel gelitten» habe und Opfer eines «unzulässigen Eingriffs» geworden sei. Galilei wurde danach formell rehabilitiert, was die grundsätzliche Frage aufwirft, ob die Gegenwart ein Urteil, das unter damaligen Voraussetzungen begründet war, revidieren kann und soll.“ Ein Argument, dem sich zahlreiche Nationalsozialisten nach dem Zweiten Weltkrieg anschlossen.
Nixeys Buch ist leicht und unterhaltsam geschrieben, es ist aber kein wissenschaftliches Werk eines Althistorikers (so werden etwa Ausführungen des manchmal auf Bild-Zeitung-Niveau agierenden Sueton allzu unkritisch übernommen). Es leistet aber einen wertvollen Beitrag zur Entmythologisierung des „Kultur und Geist bewahrenden Christentums“, welches nie existierte, obgleich man mit viel Verve und der Hoffnung auf Unbildung zu dieser Legendenbildung sich beizutragen bemüht.
Catherine Nixey: Heiliger Zorn. Wie die frühen Christen die Antike zerstörten. München: DVA 2019.