Karl Kraus wird das Diktum zugeschrieben, dass es die gemeinsame Sprache sei, die Deutschland und Österreich von einander trenne. Leider lässt sich der Satz meines Wissens nirgends in seinen Schriften nachweisen. Was sich hingegen nachweisen lässt, ist die Aussage, nach der England heutzutage alles mit Amerika gemein habe ausgenommen natürlich die Sprache. Im englischen Original lautet der Satz:
Indeed, in many respects, she was quite English, and was an excellent example of the fact that we have really everything in common with America nowadays, except, of course, language.
Wir finden diesen Satz nicht bei Karl Kraus. Sonst wäre er nicht auf Englisch und stände nicht in einem Aperçu zu einer Kurzgeschichte von Oscar Wilde. Tatsächlich findet er sich im ersten Kapitel der Kurzgeschichte The Canterville Ghost. Aber die zu Grunde liegende ähnliche Argumentation klingt in meinen Ohren dennoch frappant.
Abgesehen von der sehr, sehr lockeren Verwendung der Wörter „Amerika“ und „England“ weist der früh in der Erzählung vorkommende Satz schon auf eines der Themen hin, die Wilde in seinem kurzen Text antippt – ein Thema, das vor allem zu Beginn dominant ist und uns Lesende dazu verführen will, die Geschichte als eine Satire auf britische vs. US-amerikanische Sitten und Gebräuche zu lesen. The Canterville Ghost entwickelt sich dann aber weiter zu einer immer noch satirischen Parodie auf den Schauerroman, wie ihn vor allem die Briten und die Iren der Romantik pflegten, um schließlich ernst zu werden und über Leben, Tod und Liebe zu philosophieren. Nun ja, wenigstens ansatzweise.
Schon der Untertitel der Erzählung (A Hylo-Idealistic Romance) scheint den Gegensatz zwischen US-amerikanischem und britischem Denken auf eine quasi-philosophische Ebene anheben zu wollen. Denn „Hylo“ weist auf das altgriechische Wort für „Materie“ hin, das wir z.B. bei Aristoteles finden (und Wilde hatte in seinen Schul- und Universitätsjahren als Gräzist brilliert!). Ein Widerspiel zwischen Materialismus und Idealismus also. Das wird im Text sogar einige Zeit durchgehalten, auch wenn der Humor immer mehr auf Slapstick-Ebene sinkt.
Mehr und mehr schiebt sich aber die Romance in den Vordergrund. Anders gesagt: Die Satire verwandelt sich in das Märchen einer Erlösung eines zu Lebzeiten bösen Menschen durch eine junge Frau und ihre auch Gespenster umfassende Menschenliebe.
Die Geschichte wurden unzählige Male für Film, Funk und Fernsehen adaptiert und ich werde sie deshalb hier nicht nacherzählen. Meist wird sie in den Bearbeitungen zu einem Kindermärchen herabgestuft. Das ist irgendwie verständlich, denn eigentlich können nur Kinder in ihrer Unvoreingenommenheit eine Geschichte goutieren, die, wie diese hier, derart schillert und von Satire und Parodie sich am Ende hinwendet zu einer schmalzig-mystischen Moral. Es ist im Grunde genommen ein Rätsel der Literaturgeschichte, wie eine derart schlecht konstruierte (eigentlich ja nur irgendwie zusammengestoppelte) Kurzgeschichte die Jahrzehnte überleben konnte.
Kann man sie dennoch lesen? Natürlich. Sie ist kurz. Und: Einzelne Szenen und Bonmots sind brillant. Nur schon ihretwegen würde ich die Geschichte empfehlen.