Meistens hat der Autor einen guten Grund, wenn er ein fast beendetes Werk liegen lässt und nie mehr fertig schreibt. Lokalbericht war Hermann Burgers erster Roman; er schrieb an ihm zwischen 1970 (damals war er 28) und 1972. Veröffentlicht wurde er erst 2016, aus dem Nachlass. Meistens hat auch der Leser einen guten Grund, wenn er solche postumen Veröffentlichungen meidet. Zu gut sieht man ihnen den Grund an, warum der Autor sie liegen liess.
Im Falle von Burgers Lokalbericht ist das ein wenig anders – jedenfalls auf Leserseite. Natürlich hat der Roman Schwächen, sogar grosse Schwächen. Nach einem furiosen Beginn bekundet Herman Burger zusehends Mühe, einen anständigen Mittelteil und gar ein passendes Ende zu finden. Aber das war auch bei späteren Romanen Burgers so; selbst das Ende von Schilten, Burgers bekanntestem Roman, ist mit dem plötzlichen (schriftlichen) Eingreifen eines Schulinspektors, der erklärt, was „in Wirklichkeit“ geschehen sei, gelinde gesagt verwirrend. Ich kenne Leser, die sich von solchen Dingen von einer Lektüre abhalten lassen können.
Womit schon angedeutet ist: Lokalbericht teilt seine Schwächen mit späteren, berühmteren Werken Burgers. Der Roman teilt aber noch mehr: Themen, Motive, Stil, Poetik. Da sind schon erste Näherungen an den Berichts-Roman, als der spätere Werke Burgers firmieren sollten (Schulbericht zu Handen der Inspektorenkonferenz). Der spätere Burger sollte explizit eine Poetik des Verschleifens für sich geltend machen, will sagen, eine Poetik, in der es essentiell ist, dass Realität und Fiktion in einander greifen und nahtlos ineinander übergehen. Das gilt für geschilderte Ereignisse ebenso wie für geschilderte Personen. Das gilt auch für den Ich-Erzähler, in dem viel von Burger steckt, in dem aber nicht nur Burger steckt. So stellt jeder Roman Burgers auch eine Art deformierter Autobiografie dar. (Und ich habe mich gewundert, im editorischen Kommentar keinen Hinweis auf gerade jenen Autor der Weltliteratur zu finden, der diese Verschleif-Technik (um Burgers Ausdruck zu verwenden) bereits runde 70 Jahre früher vorexerzierte: Marcel Proust, der in seiner Recherche du temps perdu genau so vorgeht, und sich auch immer dagegen verwahrte, dass man in seinen Figuren das Abbild nur eines einzigen existierenden Menschen sehen wollte.) Und wenn das Rauchen von Zigarren hier noch zurücksteht hinter dem Rauchen von Pfeife (natürlich der Marke Dunhill!): Es findet sich doch eine gerauchte Zigarre…
Die Geschichte – die eigentlich keine ist, weil sie nirgendwohin führt, bzw. zu einem notdürftigen Ende, das einem Abbruch gleich kommt – die Geschichte also handelt vom jungen Doktoranden der Germanistik Günter Frischknecht, der gerade an einer Dissertation über Grass arbeitet und daneben noch als sog. Hilfslehrer am Gymnasium einer Schweizer Kleinstadt wirkt. Die Kleinstadt wird später im Roman als Aarau identifiziert; anders als Keller, der sein Zürich als Seldwyla führte, kann oder will Burger Aarau nicht pseudonym halten. Beim Gymnasium handelt es sich dementsprechend um jenes, das heute – weil es nun auch ein neues gibt – die ‚Alte Kantonsschule‘ genannt wird. Eigentlich aber möchte dieser Doktorand und Hilfslehrer selber schreiben. Dabei kann er sich – zumindest zu Beginn – nicht von poetologischen und metatextlichen Reflexionen lösen. Schon die Namensgebung und die Art, wie der Ich-Erzähler seinen Namen einführt (Mein Name sei Günter Frischknecht, S. 17 meiner Ausgabe) ist Germanisten-Literatur reinsten Wassers. Der Ich-Erzähler kann sich sogar nicht enthalten, seine Namensgebung selber zu explizieren: Den Günter von seinem Dissertationsthema Grass; den Frisch von jenem Autor, dem er den Satz überhaupt geklaut hat, und den Knecht schliesslich von der Hauptfigur des Glasperlenspiels. Die Glasperlenspieler als die fruchtlosen, schmarotzend auf dem Leben der Literatur sitzenden Literaturwissenschafter und -kritiker werden von Burger dann noch das eine oder andere Mal herangezogen. (Burger hat meines Wissens seinen Wahllandsmann Hesse immer recht positiv eingeschätzt.)
Die Literaturwissenschafter, in Form seines Doktorvaters und der Co-Doktoranden, bekommen in diesem Roman genau so ihr Fett weg wie die Literaturkritiker. (Burger sollte erst später von Reich-Ranicki protegiert werden; der hier vorgestellte Literaturkritiker ist denn zwar auch ein Konglomerat verschiedener – Schweizer – Literaturkritiker, aber er ist kein ‚Literaturpapst‘, wie MRR genannt werden sollte, sondern ein – Literaturanwalt, der allerdings nicht die Literatur als Anwalt vor einem Gericht vertritt, sondern sie gleich selber verurteilt.)
Andere Motive, die später sehr präsent in Burgers Werk sein sollten, finden wir ebenfalls bereits: Der Zauberkünstler hat im Lokalbericht seinen ersten Auftritt – mit der doch bemühten Metapher, dass er es ist, der aus dem Bauch seiner Assistentin eine Maquette der Stadt Aarau hervorzaubert. Die Verfremdung ins Groteske, die wir vor allem aus der Künstlichen Mutter kennen, finden wir hier in der Tatsache, dass die Sekretärin des Literaturanwalts sich für jeden Klienten speziell umzieht, bevor sie ihn ins Büro des Anwalts bittet.
In der Mitte des Romans, mit einem Rückblick auf Gantenbeins … äh … Frischknechts Kantonsschuljahre eine unglücklich verkrampfte Liebesgeschichte, die Burger besser weggelassen hätte. Sie ist allenfalls ein weiterer Hinweis auf Burgers verschleifend-autobiografische Schreibweise, die auch schon mal die Form nachträglicher Rachephantasien annehmen konnte.
Dennoch: Auch wenn es Burger noch nicht gelingt, die Provinzialität seines Schauplatzes so durch zu gestalten, dass die Provinz zum Stellvertreter der ganzen Welt wird, ist sein Erstling durchaus lesenswert. Noch schimpft er vorwiegend auf die Provinz, schmält sie wie ein enttäuschter Liebhaber. Nur: Die viel spätere Künstliche Mutter ist nicht besser. (Schilten hingegen – und Brenner sowieso – dann natürlich schon.) Und vieles, was in der aktuellen Literaturszene der Schweiz sich zu regen begann, schrieb ähnlich – Gerold Späth, der ebenfalls grotesk-absurde Szenerien in der Provinz entwarf; Urs Widmer, ebenfalls promovierter Germanist, kommt Burger vielleicht noch näher; Otto F. Walter, der ebenfalls die Provinz beschreibt und so Weltliteratur erzeugt; vielleicht auch noch Hugo Lötscher, von dem vieles ebenfalls autobiografisch tingiert ist. (Sie alle und mehr werden auch im editorischen Nachwort aufgezählt.)
Das Buch, erschienen 2016 in der Edition Voldemeer Zürich bei De Gruyer, aus dem Nachlass als Leseausgabe herausgegeben von Simon Zumsteg und anderen, wurde mir übrigens aus heiterem Himmel von ebendiesem Simon Zumsteg zugeschickt, mit einer Postkarte, die aussagte, dass mich das vielleicht interessieren könnte. Ich wusste nicht einmal, dass der Schweizerische Nationalfonds in Zusammenarbeit mit dem Schweizerischen Literaturarchiv, der Universität Bern und anderen Instituten ein Projekt „Textgenetische Editio princeps von Hermann Burgers erstem Roman Lokalbericht (1970–72)“ am Laufen hatte. Das berührt mich insofern persönlich, als dass ich nicht nur Aarau und die (heute: ‚alte‘) Kantonsschule aus eigener Erfahrung kenne, sondern auch die Universität Bern. Habent sua fata libelli.