Blaise Pascal: Pensées [Gedanken]

Ausschnitt aus dem Gemälde "Junger Mann mit Totenkopf" von Frans Hals (1626). Das Gemälde zeigt einen jungen Mann mit einer gefiederten roten Haube und einem Umhang über der Brust. Der Mann gestikuliert mit der rechten Hand dramatisch auf den Betrachter, während er in der linken Hand einen Totenschädel hält. Das Gemälde wurde als Titelbild meiner Ausgabe verwendet. Der von mir gewählte Ausschnitt zeigt nur den Kopf des jungen Mannes.

Ich habe Pascals Pensées (Gedanken) in der Reihenfolge gelesen, die den einzelnen Aphorismen um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert von Léon Brunschvicq gegeben wurde. Ursprünglich handelte es sich bei den Pensées um eine erst locker in einer Art von Faszikeln gegliederter Ideen-Sammlung für eine von Pascal geplante apologetische Schrift. Sein früher Tod hinderte ihn daran, dieses Buch zu schreiben. Seine nächsten Verwandten und seine jansenistischen Freunde als seine Erben kamen auf den Gedanken, die Pensées so zu veröffentlichen, wie sie sie vorgefunden hatten: als Bruchstücke. Allerdings konnten sie sich einer Redaktion dieser Bruchstücke dann doch nicht enthalten. Es ist einerseits durchaus ein Verdienst, Pascals Gedanken für wichtig genug für eine Veröffentlichung zu halten – es war 1670, dem Jahr der Ersterscheinung, keineswegs üblich, solche Fragmente als Fragmente zu veröffentlichen. Andererseits konnten schon sie, die ersten Herausgeber (und in der Folge alle übrigen bis ins 20. Jahrhundert), der Versuchung nicht widerstehen, Pascals Aphorismen umzusortieren, umzuschreiben oder gar zu kürzen. Auch Léon Brunschwicq griff in den Originaltext ein – zumindest was die Reihenfolge betrifft, in der er die Fragmente präsentierte. Seine Ausgabe war aber lange Zeit die maßgebende, und man kann meines Wissens noch in allen heutigen Ausgaben über eine Konkordanz seine Sortierung rekonstruieren (so, wie in meiner Ausgabe die Reihenfolge, die Lafuma den Fragmenten 1952 gegeben hat, über eine Konkordanz erschließbar ist). Bis heute wissen wir nicht, wie Pascals Werk, wenn er je damit fertig geworden wäre, hätte aussehen sollen. Nicht alle seiner Gedanken sind zu Ende gedacht, und oft sind es eher ‚Regieanweisungen‘, mit denen Pascal für sich selber festhielt, was im Anschluss an diesen Gedanken weiter diskutiert werden sollte.

Brunschwicqs Ausgabe suggeriert ein planvolles Voranschreiten der Argumentation Pascals, von einer Auseinandersetzung mit naturwissenschaftlichen, mathematischen oder philosophischen Fragen hin zur Apologie des (christlichen) Glaubens. Wir wissen heute, dass Pascal sich bis an seine Lebensende noch mit physikalischen Versuchen beschäftigt hat – diese Art von planvollem Voranschreiten also wohl nicht in seinem Sinne lag. Bei Brunschwicq aber haben wir zu Beginn der Pensées den Rationalisten, der nur glaubt, was sein Verstand einsehen kann, und den Denker, der versucht, einen moralischen Mittelweg zu definieren zwischen Epiktet und Montaigne. Epiktet, der Stoiker, ist ihm allzu positiv eingestellt, wenn es darum geht, dass die Menschen sich selber moralisch perfektionieren können. Montaigne, der Skeptiker, hingegen (Pascal spricht gern auch allgemein vom „Pyrrhonismus“) setzt ihm zu wenig Vertrauen in den Menschen und spricht ihm zu oft von sich selber. (Dass er dann in seinen im engeren Sinn apologetischen Gedanken selber nur allzu gern von sich selber ausgeht, steht auf einem anderen Blatt.) Zu Beginn in Brunschwicqs Ausgabe steht also der Mathematiker und Physiker, der Rhetoriker und Psychologe, der Wissenschafts- und auch der Sprachtheoretiker – bis er dann in seinem moralisch-apologetischen Teil sich eng an Augustinus von Hippo anlehnt und alle diese irdischen Dinge für nutzlos zu betrachten scheint.

Als Angel- bzw. Wendepunkt finden wir das Kapitel über die berühmt gewordene (so genannte) Pascal’sche Wette (die, kohärent formuliert, nirgends in Pascals Manuskript zu finden ist, sondern aus verschiedenen Gedanken zusammengesetzt werden muss). Generationen von Philosophen und Theologen haben sich damit beschäftigt und die Schwächen von Pascals Argumentation aufgedeckt. Pascal präsupponiert ja wirklich auch viel zu viele Dinge, als dass die Wette mathematisch, wahrscheinlichkeitstheoretisch, aber auch theologisch oder religionswissenschaftlich nur halbwegs wasserdicht sein könnte. (Am meisten ärgert mich persönlich, dass auch er einer der in jenem (allerdings zeitüblichen) Glauben Verhafteten ist, die der Meinung sind, Atheisten müssten prinzipiell ein trauriges Leben führen. Während er dann doch zwischendurch so halbherzig gesteht, dass christliche Dogmatik das Leben der einzelnen negativ beeinflussen kann.)

Fazit: Leibniz hat aus den zahlentheoretischen Überlegungen der Pensées die Grundlage seiner Infinitesimalrechnung geschöpft. Noch bis weit ins 20. Jahrhundert wurde von (vor allem natürlich französischen) Intellektuellen jeder Couleur regelmäßig aus diesem Buch zitiert. Brunschwicqs Ausgabe hat den Vorteil, dass Lesende sich nicht durch pêle-mêle aufgelistete Argumente durchkämpfen müssen, um zu einem bestimmten Thema zu gelangen. Geistes- und philosophiegeschichtlich sind Pascals Pensées also, mindestens zum Teil, immer noch relevant.


Meine Ausgabe:

Pascal: Pensées. Texte établi par Léon Brunschwicq. Chronologie, introduction, notes, archives de l’œuvre, index par Dominique Descotes. Paris: Garnier-Flammarion, 1970. (= GF 266)

1 Reply to “Blaise Pascal: Pensées [Gedanken]”

  1. À bas Brunschvicq!

    «J’écrirai ici mes pensées sans ordre, et non pas peut-être dans une confusion sans dessein. C’est le véritable ordre, et qui marquera toujours mon objet par le désordre même.
    Je ferais trop d’honneur à mon sujet, si je le traitais avec ordre, puisque je veux montrer qu’il en est incapable.»

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