Mary Shelley: Frankenstein oder Der moderne Prometheus

Anlass für die erneute Lektüre dieses Buchs (ich habe bereits vor 6 Jahren hier etwas dazu geschrieben) war einerseits der Umstand, dass die Büchergilde Gutenberg 2018 eine neue, illustrierte Ausgabe des Textes herausbrachte1), andererseits der, dass ich in etwa zeitgleich mit der Entdeckung der neuen Büchergilden-Ausgabe auch entdeckte, dass sich zwei so herausragende Kenner der klassischen Literatur wie Dr. Köllerer und Dr. Fränzel in ihrer Einschätzung dieses Buchs praktisch diametral widersprechen. (Köllerer: Dieser Roman ist in Wahrheit von einer Komplexität und Vielschichtigkeit, die sich mit den besten Klassikern messen kann.Fränzel: Sieht man von seiner ungeheuerlichen Berühmtheit und Ungelesenheit ab, so muss der Roman wohl leider als ziemlich miserabel bezeichnet werden.)

Was bleibt einem da übrig, als das Buch noch einmal (und nicht erst zum zweiten Mal) zu lesen? Im Folgenden will ich allerdings nun nicht die Einschätzungen der beiden Doctores vergleichen oder bewerten, sondern vor allem meine eigene Einschätzung von 2012 revidieren und präzisieren. Immerhin habe ich in der Zwischenzeit nicht nur die andere berühmte Geschichte gelesen, die in jenen nassen, kalten Tagen des Jahres ohne Sommer 1816 in der Villa Diodati am Genfersee geschrieben wurde (John Polidoris The Vampyre), sondern auch Christopher Fraylings Vampyres, das zumindest im ersten Teil eine nicht üble Literaturgeschichte der Vampir-Stories bringt, die Kind und Kindeskinder jener Tage waren, sowie Richard Holmes’ The Age of Wonder, das die Stellung der englischen Romantiker zu den langsam enstehenden modernen Naturwissenschaften darstellt.

Da ist zunächst ein ganz grober Schnitzer, der mir 2012 unterlaufen ist, wohl, weil mich mein Gedächtnis trog. Mary Shelleys Roman hat sehr wohl Längen. Sogar beträchtliche. Ihre Figuren können nicht existieren, ohne immer wieder über sich nachzudenken. Und, indem sie über sich nachdenken, tun sie sich auch immer wieder, unweigerlich, selber leid, unendlich leid. Das gilt für alle drei Erzähler: Ob der junge Kapitän der Rahmenerzählung, ob Frankenstein, ob dessen Geschöpf – der Reflex ist bei allen derselbe. (Dass sie alle drei, wenn sie im Laufe des Romans ihre Geschichte erzählen, ein- und dieselbe Sprache verwenden, in ein- und demselben Stil reden, was an Shelleys Roman auch schon kritisiert wurde, kann hingegen sogar als Kunstmittel gerechtfertigt werden: Letztlich erfahren wir alle Erzählungen aus dem Mund bzw. der Feder des jungen Kapitäns, der sie getreulich an die Schwester in der Heimal weitergibt, und von dem – da kein professioneller Schriftsteller – nicht erwartet werden kann, dass er die Reden Frankensteins und seines Geschöpfs in deren eigenem Stil wiedergeben wird. Auch stammen Kapitän und Frankenstein aus ähnlichen Verhältnissen: grossbürgerlich, einigermassen wohlhabend und deshalb in der komfortablen Lage, eigenen Einfällen ohne Geldsorgen nachgehen zu können, egal, wie wahnwitzig sie sind. Frankensteins Geschöpf wiederum hat sein Französisch bei einer verarmten Emigranten-Familie von französischem Adel gelernt (dies zugegeben eine seltsame und unbeholfene Konstruktion), wird also auch nicht allzu weit vom Französisch des betuchten Genfers Frankenstein entfernt liegen.) Und auch bei Mary Shelley finden wir das klassische Ingrediens des Schauerromans: Auch bei ihr gibt es einen (in diesem Fall Frankenstein höchstpersönlich), der weiss, und der, wenn er denn reden würde, alle kommenden Übel verhindern könnte; der aber nicht redet und so alle Übel auf sich und/oder seine Umgebung zieht. (Je nun: Hätte Frankenstein gleich zu Beginn geredet, so wären er und sein Monster nach spätestens 30 Seiten von der Justiz wegen Mordes und Beihilfe dazu hingerichtet und die restlichen 350 Seiten des Romans nie geschrieben worden…)

Mary Shelley kannte zumindest vom Hörensagen die neuesten Errungenschaften der britischen Wissenschaft der Zeit; die englischen Romantiker waren daran sehr interessiert und Percy Shelley und Byron werden an den Abenden am Genfersee sicher auch darüber diskutiert haben. (Der Darwin, der im Roman erwähnt wird als Bestätigung, dass es möglich sein könnte, tote Materie (wieder?) zu beleben, ist selbstverständlich nicht der Evolutionstheoretiker Charles, sondern dessen Grossvater Erasmus.) Dennoch ist es wiederum typisch romantisch, dass die wissenschaftliche Laufbahn Frankensteins mit der Lektüre der alten und mystisch-alchemistisch angehauchten Agrippa, Albertus Magnus und Paracelsus beginnt.

Doch das ist bestenfalls geistes- oder wissenschaftsgeschichtlich interessant. Weshalb aber wird der Roman bis heute gelesen (und sei es nur, dass man die Ursprünge des Film-Monsters kennen lernen will)? Die Antwort auf diese Frage ist komplexer.

Es handelt sich meines Erachtens um ein Missverständnis (dem am Ende des Romans auch die Autorin selber verfällt), zu glauben, dass hier vor einer Hybris der Wissenschaften oder der Wissenschafter gewarnt werden soll. Frankensteins Abscheu vor dem Monster, die zu einer Abscheu vor seiner eigenen Tat wird, ist zu Beginn keineswegs ethisch-moralisch begründet. Schon, wie er sein Geschöpf zum allerersten Mal lebendig sieht, schreckt er vor ihm zurück – nicht, weil er vor seiner Tat zurückschrecken würde, nein, der Grund ist ein anderer: Der Kerl, sein Geschöpf, ist potthässlich! Frankensteins Reaktion ist ästhetisch, nicht ethisch.

Dabei sollte nicht übersehen werden: Das Kerlchen ist blitzgescheit. Praktisch auf Anhieb lernt es sich bewegen, Arme und Beine koordinieren. Nach nur wenigen Wochen Zuhörens hat es von den verarmten Adligen im Wald ein perfektes Französisch gelernt, dazu noch (wenn nicht schreiben, so doch) lesen. In kürzester Zeit ist es in der Lage, Goethes Leiden des jungen Werthers zu lesen und auf seine Situation anzuwenden, ebenso Plutarch (!) und Miltons Paradise Lost, wo er der Figur des Satan eine eigenwillige Interpretation mitgibt, nämlich, dass es erst die Zurückweisung durch Gott selber war, die ihn böse werden liess. Eine theologisch nicht uninteressante These, die leider von der These der menschlich-wissenschaftlichen Hybris überdeckt wurde und wird. Frankensteins Monster ist also hochintelligent und im Grunde genommen auch äusserst anlehnungsbedürftig. Nicht auf Grund seines Charakters wird es zurück gestossen, sondern aus rein äusserlich-ästhetischen Gründen. (So sehr zurück gestossen übrigens, dass es nicht einmal einen Eigennamen erhält; das ganze Buch über wird es nur das Geschöpf oder das Monster genannt.) Wenn wir also aus Frankenstein einen Schluss auf die heutige Zeit ziehen müssen, sollte es der einer Ablehnung jedweder Form von Rassismus sein. Davor schrecken wir offenbar instinktiv zurück.

Summa summarum: Frankensteins Wissenschaft ist veraltet; der Roman hat unziemliche Längen und ist alles andere als spannend. Warum hat er dennoch bis heute überlebt? Ich glaube, dass wir es hier mit einer unbewussten Identifikation mit dem „Monster“ zu tun haben, die Leser und Leserinnen vornehmen. Es ist böse und verübt schreckliche Verbrechen, ja. Aber es tut das nur, weil es von der Umwelt es nicht verstanden wird, weil ihm selber Böses angetan wird. Und, Hand aufs Herz, wer wird tief in seinem Innern nicht ähnlich argumentieren, wie Frankensteins Monster, wenn es z.B. darum geht, vor sich selber zu rechtfertigen, warum man im Supermarkt einen Kaugummi mitlaufen liess? Es wird einem sofort eine Begründung einfallen, mit der man sich selber ins Recht setzen kann, und die darauf hinausläuft, dass wir Unrecht tun, weil jemand anders uns vorher Unrecht getan hat. (Auch die aktuelle Politik ist wieder einmal voll von Beispielen für diese Denkweise.)

Die Büchergilden-Ausgabe ist sehr schön gestaltet. Die Geschichte selber ist zwar langatmig, aber sie gibt Stoff zum Nachdenken, auch wenn man nicht unbedingt in die Richtung nachdenken sollte, die der Klappentext suggeriert: Mary Shelley hat schon vor 200 Jahren […] entscheidende Fragen aufgeworfen über die Gesellschaft, die Forschung, die Moral. // Wie weit darf man gehen?


1) Aus dem Englischen von Karl Bruno Leder und Gerd Lentz. Mit Illustrationen von Martin Stark. (Die Rahmenhandlung auf dem Schiff in der Arktis ist dabei auf blauem Papier gedruck, der Rest in Weiss.)

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