(Dieser Artikel entstand vor ziemlich genau 4 Jahren, anlässlich eines damals die Runde machenden Artikels von Eberhard Rondholz: Völkerpsychologische Stereotypen bei Karl May. Ich stelle ihn hier wieder ins Internet, nachdem er in der Zeitschrift der Leipziger Karl-May-Freunde damals veröffentlicht wurde, mittlerweile aber wohl der Vergessenheit anheim gefallen ist. Meine eigene Beschäftigung mit dem Liebling meiner Jugend hat kurze Zeit nach der Veröffentlichung dieses Artikels aufgehört. Nicht, weil ich Karl May geringer schätzen würde als damals. Ich halte bis heute daran fest, dass May, wäre er kein verwirrter Proletarier gewesen, wie Bloch sagte, durchaus das Format gehabt hätte, der deutsche Balzac zu werden. Das ist zwar auch noch nicht viel, aber immerhin …)
Da stöbert der ahnungslose Internet-User in seinem Lieblingsforum und stolpert auf einmal über einen Artikel mit diesem Titel. Und liest. Und ist schon ob des Titels verwirrt. Von der Sekundärliteratur abgesehen nämlich, hat er den Begriff “Völkerpsychologie” das letzte Mal verwendet gefunden in Wilhelm Wundts Monumentalwerk gleichen Titels, das in 10 Bänden von 1900 bis 1920 erschienen ist. Und auch damals war es ein ziemlich kurzlebiger Begriff, der ausser von Wundt noch von Moritz Lazarus und dessen Schwager Heymann Steinthal verwendet wurde – beides übrigens für die Sache ihrer Glaubensgemeinschaft äusserst engagierte Juden. Heute ist der Begriff „Völkerpsychologie“ allenfalls noch interessant durch den Umstand, dass zwei der Väter der modernen Soziologie, Georg Simmel und Émile Durkheim , Völkerpsychologie studiert hatten. Simmel entstammte einer zum Christentum konvertierten jüdischen Kaufmannsfamilie, Durkheim war Sohn eines Rabbiners. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, einen stark von jüdischen Exponenten geprägten, im übrigen aber veralteten wissenschaftlichen Begriff ausgerechnet auf Karl May, den „teutonischen Gutmenschen“ (so nennt ihn der Verfasser des Zeitungsartikels), angewendet zu sehen, indem man dem Protestanten Karl May vorwirft, römisch-katholische Vorverurteilungen ostchristlicher Völker zu kolportieren. Ob diese Ironie dem Verfasser bewusst und von ihm beabsichtigt war, entzieht sich der Kenntnis des ahnungslosen Internet-Users.
Lassen wir einmal die Problematik beiseite, dass von den meisten Texten Karl Mays keine Original-Handschrift existiert, also immer die Möglichkeit gegeben ist, dass solche und / oder andere Textstellen von wohlmeinenden Redakteuren eingefügt worden sind. Halten wir einfach fest, dass, ob es dem Karl-May-Fan gefalle oder nicht, Eberhard Rondholz natürlich Recht hat. Halten wir einfach fest, dass, ob es der Neuen Rheinischen Zeitung nun passe oder nicht, der Autor dieses Artikels absoluten Unsinn erzählt.
„Wie nun?“, wird sich der Leser dieses Artikels fragen. Je nun: Karl May war – wie die meisten von uns – alles andere als ein systematischer und konsequenter Denker. Und so lässt sich meist alles, was May schreibt, gleichzeitig in ein bestimmtes Schema pressen und eben auch nicht pressen, gleichzeitig in dieses Schema pressen und in ein völlig anderes. So soll im Folgenden versucht werden, ein ganz anderes Schema zu skizzieren, dem Mays Stereotype mindestens so gut eingeordnet werden können, wie dem theologisch-völkerpsychologischen von Eberhard Rondholz. Ein Schema, das auch den Vorteil hat, dass nicht erwähnte Stereotype wie Mays Chinesen, seine südamerikanischen Indios und vielleicht gar seine Mormonen darin Platz finden.
Eines muss im Vorfeld noch klar gestellt werden: Natürlich war May – genauso wie wir heute noch immer! – für seine Darstellung auf die Informationen angewiesen, die er vorfand. Und natürlich wird er in vielen Fällen die Darstellung seiner Quellen so übernommen haben wie vorgefunden. May war gezwungen, rasch viel zu produzieren; da blieb für seriöse Kontrolle der Quellen keine Zeit. (Abgesehen davon finden wir selbst im Werk eines wirklichen Kosmopoliten wie Alexander von Humoldt immer und immer wieder autochthone Spuren einer eurozentrischen Weltanschauung, die – wenn auch manchmal unter der Textoberfläche verborgen – den Glauben an eine Überlegenheit der weissen Rasse durchblicken lassen. Das gesamte 19. und noch das beginnende 20. Jahrhundert waren in dieser Beziehung bei weitem nicht so sensibilisiert, wie wir es mehr als 100 Jahre, 2 Welt- und diverse Kolonialkriege später es sind.) Dennoch kann das nicht die alleinige Erklärung für Mays „Faux-pas“ sein. 1879 schon überarbeitet Karl May den Text Der Waldläufer von Gabriel Ferry. Auch Ferry orientiert sich an den gängigen „völkerpsychologischen Stereotypen“ – Trivialliteratur ist dazu ja beinahe verpflichtet, benötigt sie doch einen hohen Wiedererkennungs- und Identifizierungswert, um beim Publikum zu reüssieren –, und so übernimmt er die allgemeine Ansicht seiner Zeit (ob in USA oder Europa) und stellt uns hie gute Comanchen, dort böse Apachen vor. Vor allem die bösen Apachen gehörten zum Standardrepertoire nicht nur in der Fiktion sondern auch in „objektiven“ Zeitungsartikeln jener Zeit. Die Apachen waren ja offenbar auch in ihrem verzweifelten Kampf gegen die immer weiter vordringende Übermacht der Weissen nicht zimperlich und bevorzugten nicht unbedingt den offenen Kampf, in dem sie unweigerlich den Kürzeren gezogen hätten. Dieses Stereotyp übernimmt May auch in seine Bearbeitung. Doch schon kurze Zeit später, als er selber zu schreiben beginnt, stellt Karl May in seinem Werk, nach nur kurzem Zögern, ob er ihn zum Sioux machen sollte, Winnetou, den edelsten seiner edlen Wilden als Häuptling gerade jenes Stammes vor, der ansonsten von allen richtiggehend verteufelt worden war. May war also durchaus imstande, gegen eine überlieferte Meinung zu schreiben – wenn er es denn wollte. Bei den Griechen und bei den Armenieren wollte er es nicht. Warum?
Rondholz vertritt die Meinung, in diesen Fällen hätte der Protestant May seinen (römisch-)katholischen Auftraggebern nach dem Mund geredet bzw. geschrieben. Wir wissen letzten Endes nicht, was in Karl Mays Kopf vorging, und so können wir dies natürlich weder bestätigen noch bestreiten. Zu vieles in Karl Mays Leben und Werk spricht dafür, dass dem tatsächlich so war. Andererseits spricht auch vieles in Karl Mays Leben und Werk dafür, dass er von einmal abgeliefertent Texten keine Handschrift zurückverlangte und auch sonst im allgemeinen nicht daran interessiert war, eigene Fassung und Zeitschriften- bzw. Buchfassung miteinander zu vergleichen, und es wohl nur in Ausnahmefällen gemacht hat. Falls seine Redakteure dies wussten – und so etwas finden Redakteure schnell heraus –, hätten sie dies als Freibrief auffassen können, eigenes an Mays Text heranzutragen: orthographische, stilistische und eben auch inhaltliche „Verbesserungen“. Doch nicht dies lässt mich zögern, May so einfach schuldig zu sprechen, wie es Herr Rondholz tut, sondern etwas anderes: die Tatsache nämlich, dass Mays Christentum im Grunde genommen ein sehr vages ist. Wie wohl die meisten Christen zu seiner Zeit wie heute, selbst die bekennenden eingeschlossen, hätte er wohl Mühe gehabt, schon die genauen theologisch-dogmatischen Unterschiede zwischen Protestanten und Katholiken zu benennen, geschweige denn zwischen Römisch-Katholischen und Griechisch-Orthodoxen. Im Grunde genommen, gewinnt man den Eindruck, interessiert es ihn auch nicht. Christen sind Christen. Natürlich, um einer Partei anzugehören, braucht man deren Doktrin nicht verstanden zu haben – nicht einmal dann, wenn man für sie wirbt.
Christen sind Christen? Karl May war kein systematischer, analytischer Denker. Auch im Alterswerk, wo er versucht, ein kohärentes System zu vertreten, gelingt ihm dies nur ansatzweise. Entsprechend schwierig ist es auch, Mays Denken zu analysieren oder auch nur zu beschreiben. Insbesondere sein Glauben bleibt doch recht schwammig. Wohl nennen sich Old Shatterhand und Kara Ben Nemsi bei jeder sich bietenden Gelegenheit Christ. Doch der Name „Jesus“ fällt in Mays Werk vor allem in Ausrufen wie: „Jesus, Maria und Josef!“ oder in Kara Ben Nemsis berühmten Argement, warum das Christentum dem Islam überlegen sei: weil Jesus und nicht Mohammed nach muslimischem Glauben am Jüngsten Tag richten werde. Der Heilige Geist gar tritt selten in Erscheinung – aber, seien wir ehrlich, welcher (selbst tiefreligiöse!) Christ kann das Kernstück des christlichen Glaubens, die Trinität, wirklich fassen. Um es kurz zu fassen: Ich kann Karl May nicht ganz vom Verdacht freisprechen, im Grunde seines Herzens und vielleicht, ohne sich dessen unter der konventionellen (römisch-katholischen) christlichen Firnis bewusst zu werden, ein Unitarier gewesen zu sein. Zu oft setzt er mir den „Allah“ der Muslime mit „Gott“ gleich, genauso – und auch zu oft! – den indianischen „Manitou“. Lassen wir die Tatsache beiseite, dass May (oder schon seine Quellen?i) der ursprünglichen indianischen Konzeption von „Manitou“ ziemlich Gewalt angetan hat, um ihn mit „Gott“ gleichsetzen zu können: „Allah“ wie „Manitou“ (in Mays Konzeption!) sind nur einer, nicht drei in einem. Auch sonst scheint May ein Faible für unitarische Glaubensgemeinschaften gehabt zu haben, Rondholz zitiert selber: die unierten Armenier sind in Ruhe gelassen worden, im Gegensatz zu den orthodoxen – und die Jesidi, die May so über den grünen Klee lobt, folgen einem nur bedingt christlichen, sicher aber nicht trinitarischen Monotheismus. Der „Spiritualismus“, den May zumindest zeitweise vertreten hat, und der vor allem in seinem Alterswerk in ganz interessanten und teilweise wirklich poetischen Passagen aufscheint, scheint mir in einem unitarischen Weltbild ebenfalls besser aufgehoben.
Der unitarische Aspekt in Mays Glauben müsste, dessen bin ich mir bewusst, genauer herausgearbeitet werden, auch anhand z.B. seiner Lektüre. Aber ich vermute, dass vieles der scheinbaren Nachlässigkeit Mays gegenüber einer Präzisierung seiner religiösen Position damit zusammenhängt, dass er davor zurückscheute, einen dissidenten Standpunkt vorzeigen zu müssen. Sich diesbezüglich äusserst bedeckt zu halten, müsste dem Vorbestraften sehr wichtig gewesen sein und würde auch verständlich machen, warum er seinen katholischen Auftraggebern derart nach dem Munde redete. Es fällt immerhin auf, dass etwas vom Frühesten, das er überhaupt veröffentlicht hatii, seine Geographischen Predigten, äusserst zurückhaltend formulieren und keineswegs katholisieren:
Ueber keine geschichtliche Persönlichkeit ist so viel geschrieben, gesprochen, verhandelt und gestritten worden, als über Jesus von Nazareth, der da heißt Christus. Während die Einen seine Existenz vollständig leugnen, erklären die Anderen ihn für einen Betrüger, noch Andere halten ihn für einen gutmüthigen Schwärmer, und Diejenigen, welche durch die Anforderungen ihres geistlichen Berufes oder den zwingenden Einfluß des Dogma’s gefangen genommen worden sind, erklären ihn für den Sohn Gottes, welcher ist »wahrhaftiger Gott, von Ewigkeit geboren.«
Fern liegt es uns, irgend welchen Einfluß auf irgend eine Glaubensmeinung ausüben zu wollen; wir halten, alle Parteihader vermeidend, nur die geschichtlich feststehende Thatsache fest, daß die Lehre des Nazareners einen Einfluß auf die geistige, und durch diese ebenso auch auf die äußere Entwickelung des Menschengeschlechtes hervorgebracht hat, wie wir ihn sonst im Laufe der Jahrhunderte nicht wieder bemerken. Mögen die alttestamentlichen Weissagungen Eingebungen des heiligen Geistes sein und sich wirklich auf den Messias beziehen, mögen sie sich darstellen als in ein poetisches Gewand gekleidete Wünsche eines tief geknechteten und nach Freiheit, Erholung sich sehnenden Volkes, sie sind doch – zufällig oder nothwendig – in Erfüllung gegangen durch die Geburt, das Leben und das Wirken Dessen, den der greise Simeon mit den Worten begrüßte: »Herr, nun lässest du deinen Diener in Frieden fahren, denn meine Augen haben deinen Heiland gesehen!«
Wenn ein neuer Gelehrter die Bergpredigt Christi »das confuseste aller Geschwätze« nennt, so gebrauchen wir sicher den allergelindesten Ausdruck, wenn wir ihn selbst der größten Confusion zeihen; denn wenn Christus nichts gethan, nichts gesprochen und gelehrt hätte als diese Bergpredigt, so hätte er doch genug gethan, um nicht nur unter die Weisesten der Erde gerechnet, sondern auch für den herrlichsten der Menschenfreunde gehalten zu werden. Nur darf man Christi Thun und Reden nicht durch den Spiegel der Evangelien und dogmatischen Schriften betrachten, sondern muß zu seiner hehren und reinen Individualität durch den Wust der um sie gehängten fremden Gewandung dringen. iii
Spricht er von einer göttlichen Person oder von einem Menschen? Spricht er als Christ, als Unitarier oder gar als aufgeklärter Atheist? Wie dem auch sei: ich kann mir vorstellen, dass, wenn May im Grunde seines Herzens Unitarier war, er auch weniger Skrupel gehabt haben könnte, innerhalb des trinitarischen Christentums zu lavieren, sich mal protestantisch und jesuitenfresserisch zu geben, mal katholisch und marienverehrend. Die verschiedenen Ostkirchen hingegen waren ihm wohl zu fremd, als dass er sich ihrer gross hätte annehmen können oder wollen.
i Christliche Missionare waren bekanntlich sehr gut darin, indigene Vorstellungen so umzubiegen, dass christliche Konzepte darauf aufgepfropft werden konnten; und ohne es jetzt konkret nachgeprüft zu haben, vermute ich, dass schon vor Karl May andere Autoren den Manitou der Indianer zum lieben Gott der Weissen transformiert haben.
ii 1875 – ein knappes Jahr nach seiner Haftentlassung. Wenn denn der Einfluss des katholischen Anstaltspriester so gross war, wie Rondholz anzunehmen scheint: Hätte er nicht unmittalbar nach der Entlassung am grössten sein müssen?
2 Replies to “Karl May – zum 100. Todestag”