Der Titel dieser Geschichte der antiken Philosophie verdient es, genau gelesen zu werden – Matthias Perkams hat nämlich darin seine ganz spezifische Vorgehensweise bereits definiert. In zweierlei Hinsicht will er sich von den bisherigen Geschichten zur Philosophie der Antike unterscheiden. Und da ist es eben wichtig, dass er genau nicht von einer „Geschichte der antiken Philosophie“ spricht (auch wenn es dann durchaus eine ist), sondern vom Grundriss der „Philosophie in der Antike“.
Ganz bewusst also grenzt sich Perkams ab von solchen Werken wie dem nach wie vor lesenswerten und meines Wissens auch in den besprochenen Epochen bis heute unerreicht ausführlich gehaltenen Die Philosophie der Griechen in ihrer geschichtlichen Entwicklung von Eduard Zeller. Dort nämlich, so Perkams (und wir können es nicht leugnen), wird der Begriff einer Philosophie, wie ihn damals Zeller verwendet hat und wie wir ihn auch heute noch verwenden, in eine Epoche getragen, die diesen Begriff nicht kannte bzw. erst auszubilden begann. Und so fragt Perkams in jeder Epoche, bei jedem Philosophen und jeder Schule, ob und wenn ja wie der Begriff einer ‚Philosophie‘ (wörtlich oder in Umschreibung) bekannt war und verwendet wurde, eventuell zu einer Beschreibung der eigenen Tätigkeit. Es zeigt sich, dass vor Platon das Wort ‚Philosophie‘ kaum verwendet wurde, und falls doch, nicht unbedingt in der heutigen Bedeutung. In anderen Fällen können wir fast sicher sein, dass das Wort von späteren Abschreibern bzw. Kommentatoren in die überlieferten Fragmente der Vorsokratiker eingeschleust wurden – nicht in böser Absicht, selbstverständlich. Mit dieser Vorgehensweise kann Perkams auch zeigen, dass die verschiedenen Schulen der Antike, die Platoniker, die Aristoteliker, später die Stoa, mit zum Teil winzigen Binnennuancierungen ihre unterschiedlichen Positionen definiert und ihre Richtungsstreitigkeiten ausgefochten haben.
Auch in anderer Hinsicht unterscheidet sich Perkams bewusst von Zeller (und anderen): Während dieser ungefähr mit der Verwandlung der alten Akademie in eine skeptische Schule endet und die hellenistische Zeit, die Römer oder gar die Patristik bewusst ausschließt, schließt unser Autor sie ebenso bewusst ein. Cicero wird so bei Perkams zu mehr als dem simplen Eklektiker, als den ihn die Philosophiegeschichte oft bezeichnet. Ähnliches gilt für die Patristik: Es gab sehr differenzierte und philosophische Wechselwirkungen zwischen den christlich orientierten Denkern und den paganen – es handelte sich nicht um eine Einbahnstraße von der alten Philosophie zur neuen Religion. (Ähnliches gilt, und auch darauf geht Perkams ein, für die Beziehungen zwischen der paganen Philosophie im alten Rom – später Ostrom – und jüdischen Denkern.) Perkams geht sogar noch weiter und postuliert nach der Philosophie der Spätantike noch eine der Ausgehenden Antike. In dieser gehen christliche und nicht-christliche Traditionen noch mehr in einander über, und wenn schon in der Spätantike zwischen der lateinischen Überlieferungstradition im Westen und der griechischen im Osten unterschieden werden kann, ja muss, so bilden sich in der Ausgehenden Antike nun auch in Syrien, in Mesopotamien, in Persien und in Armenien Ableger dieser Schulen, die auch ‚klassische‘ Texte in ihre lokalen Sprachen übersetzen – etwas, von dem ich vorher gar nichts wusste. (Allerdings will mir scheinen, dass diese Schulen mehr in philologischer Feinarbeit gewisse Unterschiede pflegten oder sich in Detailinterpretationen verliebten, als wirklich neue Denkansätze zu finden. Ich kann mich aber täuschen – es sind offenbar viele, ja die meisten, dieser aramäischen, armenischen etc. Texte kaum erfasst, geschweige denn übersetzt.)
Über 1‘100 Seiten Text; mit den Materialien (Verzeichnis der zitierten Quellen / Hilfsmittel / Sekundärliteratur / Register) sind wir bei über 1‘400 Seiten. Einiges von diesem dicken Buch ist sicher auch den Laien zugänglich, anderes – vor allem die Ausgehende Antike ist wohl eher für (angehende) Spezialist:innen. (Welch letztere Schreibweise mich daran erinnert, dass Perkams bei jeder Epoche, jeder Schule, auch die Frage nach den weiblichen Vertreterinnen stellt. Die Ausbeute ist mager: ein paar Namen, wenige Fragmente, kaum ganze Texte. Perkams deutet an, dass die Frauenquote höher gewesen sein muss, als sie uns heute scheint – ganz einfach, weil die meist männlichen Kopisten und Kommentatoren die Leistung der Frauen schlicht und ergreifend, und vielleicht gar wortwörtlich, unter den Tisch fallen ließen. Ich sehe keinen Grund, daran zu zweifeln.)
Ein dickes Buch, aber gerade dort, wo Perkams die altehrwürdige Philosophiegeschichte Zellers ergänzt und korrigiert, wohl für alle an der antiken Philosophie Interessierten unumgänglich.
Matthias Perkams: Grundriss Philosophie in der Antike. Von den Vorsokratikern bis zur Schule von Nisibis. Hamburg: Felix Meiner, 2023.
[Ich werde das Buch im Übrigen in Ehren halten. Es ist das letzte, das ich zu einem reduzierten Preis bei der mittlerweile insolventen und in die Hände des Herder-Verlags übergegangenen Wissenschaftlichen Buchgesellschaft kaufen konnte.]