Rex Fortescu ist tot. Beim 9-Uhr-Tee bricht er in seiner Firma zusammen und stirbt kurze Zeit später im Spital. Alle Symptome deuten auf eine Vergiftung hin, und das ruft Inspektor Neele auf den Plan.
Einmal mehr zeigt sich im Laufe der Ermittlungen, was sich immer in Agatha Christies Kriminalromanen zeigt: Die hoch gehaltene bürgerliche Wohlanständigkeit und Gesittetheit ist nur Fassade. Hinter dieser Fassade verbergen sich Leidenschaften und Verbrechen. Selbst und gerade innerhalb einer Familie wüten schlimmste menschliche Eigenschaften. Praktisch keine der Figuren rund um Rex Fortescu ist, was er oder sie zu sein scheint – und was wir hinter dem Schein zu Gesicht bekommen, ist nichts Schönes. Ehrgeiz, Geldgier und Neid sind noch die schönsten Eigenschaften der Mitglieder der Familie Fortescu. Auch das Mordopfer selber war zu Lebzeiten kein Engel. Der Finanzspekulant hat sich zwar immer im Rahmen der Gesetze bewegt, diesen Rahmen aber gern bis aufs Äusserste gedehnt. Im letzten Jahr seines Lebens litt er offenbar auch unter dem, was man heute „bipolare Störung“ nennt (Christie verwendet einen älteren Fachbegriff), und hat in der aktuellen manischen Phase bereits praktisch das gesamte Vermögen der Firma (und damit der Familie) verspekuliert. Kein Wunder, stehen die potentiellen Täter in Neeles Kopf Schlange: Jeder in der Familie hatte ein vitales Interesse, dem Treiben des Patriarchen Rex Fortescu ein Ende zu setzen.
Dieser Roman mit Miss Marple als Detektivin ist 1953 in England erschienen und war bereits der sechste mit der alten Jungfer in dieser Rolle. Und wenn sich Agatha Christie treu geblieben ist und auch in diesem Roman die Familie so ziemlich als Gegenteil dessen beschreibt, was sie in der populär-konservativen Mentalität ist, nämlich Rückzugsort und Rückhalt des Einzelnen und der Gesellschaft, geht sie doch weit vom alten Weg ab: Der Ort der Handlung ist diesmal nicht das kleine Kaff St. Mary Mead , in dem Miss Marple wohnt. Die Handlung spielt fast ausschliesslich im Londoner Büro des Finanzmaklers und in dessen Landhaus im grünen Gürtel um London. Miss Marple taucht erst spät auf, fast in der Mitte des Romans, in Kapitel XIII(!). Im Grossen und Ganzen folgt die Autorin – und mit ihr natürlich der Leser – den Ermittlungen und den Gedanken von Inspektor Neele.
Das tut dem Roman nicht gut. Das Eröffnungskapitel ausgenommen, in dem die kleinen Intrigen und Ränkespiele unter Sekretärinnen und Vorzimmerdamen mit schon fast beissender Ironie geschildert werden, deren Hilflosigkeit angesichts der Katastrophe ebenfalls – dieses Kapitel also ausgenommen, fehlt die wohltuende Ironie Christies fast völlig. Was The Murder at the Vicarage, wo Miss Marple ebenfalls als Randfigur operiert, und auch The Body in the Library, wo Miss Marple die zentrale Ermittlerin darstellt, interessant und lesenswert macht, ist ja im Grunde genommen die Ironie, mit der die Autorin ihre Figuren – alle ihre Figuren! – behandelt. Hier versucht sie sich in einem psychologischen Drama mit wenig Figuren und wenig Schauplätzen. Das bekommt dem Roman nicht, weil Christie nur dann interessant ist, wenn sie leicht maliziös über ihre Figuren herzieht. In A Pocket Full of Rye aber nimmt sie ihre Figuren wortwörtlich todernst. Aus der schrulligen Jungfer voller eigener Fehler und Beschränktheiten, über die sich die Autorin zu moquieren pflegt, wird ein in der Unfehlbarkeit der Urteile Sherlock Holmes übertreffender Racheengel, und das tut der Figur „Miss Marple“ nicht gut.
Ein Roman für Christie-Aficionados ganz sicher. Für den Rest der Welt wäre er nicht nötig gewesen.
PS. Der deutsche Titel verrät leider zu viel. Die Goldmine, die tatsächlich den Schlüssel zu den Morden darstellt, rückt erst spät ins Zentrum der Aufmerksamkeit und wird in ihrer Wichtigkeit erst ganz am Schluss von Neele erkannt.
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