Es wurde Sir Henry Rider Haggard (1856 – 1925) wohl kaum an der Wiege gesungen, dass er als Autor von Abenteuerromanen und als Afrika-Experte Karriere machen sollte. Als achtes (von zehn) Kind eines englischen Gutsbesitzers kam er zur Welt. Weder reichte das väterliche Geld, noch offenbar seine Intelligenz für eine klassisch-solide englische Schulbildung. Der Gouverneur von Natal akzeptierte ihn als Sekretär – ohne Bezahlung. Doch weder machte Haggard im Kolonialdienst Karriere, noch später mit der Straussenfarm, die er mit dem Geld seiner Frau gekauft hatte. Schliesslich kehrte er nach England zurück und begann zu schreiben.
Auch dies zunächst ohne grossen Erfolg. Bis er 1885 den Durchbruch erlebte mit King Solomon’s Mines. Dem Vernehmen nach soll er diese Geschichte geschrieben haben aufgrund einer Wette mit seinem Bruder, dass er eine genau so gute Geschichte für Jungs schreiben könne, wie dies R. L. Stevensons Schatzinsel sei. So wurde Allan Quatermain geboren, und mit ihm das Vorbild für alle literarischen und filmischen Afrika-Abenteurer nach ihm. King Solomon’s Mines ist genau das, was es sein sollte: eine handwerklich sauber geschriebene Abenteuergeschichte, bei der das jugendliche Herz mit den Helden mitfiebern kann. Haggard verwendet das klassische Queste-Motiv: Eine Gruppe von Menschen zieht aus, einen Schatz zu finden und ein paar Angehörige, die auf der Suche nach diesem Schatz bereits verschollen sind. Ein typisches Jugendbuch auch deshalb, weil gar kein Sex und nur wenig Gewalt vorkommen. Bis heute sind King Solomon’s Mines [König Salomos Schatzkammer] und dessen Held Quatermain im deutschen Sprachraum die bekanntesten Schöpfungen Haggards geblieben.
In der englischsprachigen Welt wird Quatermains Ruhm allerdings noch überstrahlt von dem Ayeshas. Auch der Roman She [Sie] spielt in Afrika wie die Geschichten um Quatermain. Wohl basiert Haggard auf Fakten, die er bei seinem Aufenthalt in Südafrika gesammelt hat, v.a. seine Kenntnis der Zulu scheint immer mal wieder durch. Aber das Afrika seiner Romane ist voller Geheimnisse. Haggard nützt die Tatsache, dass ein paar Flecke des Kontinents noch unterforscht sind, und siedelt seine Geschichten in diesen weissen Flecken auf der Landkarte an. Und dort ereignet sich nun wahrhaft Unerhörtes.
Doch beginnen will die Geschichte um Ayesha in England, an einem der vielleicht nüchternsten Orte, die man sich vorstellen kann. Holly, der Ich-Erzähler, bereitet sich gerade zur Aufnahmeprüfung als „Fellow“ an einem College der Cambridge University vor, als sein einziger Freund Vincey eintritt. Der – wie könnte es anders sein – liegt im Sterben (Tuberkulose? – Wir erfahren es nicht.) und übergibt Holly sein Vermächtnis: eine eiserne Truhe und das Sorgerecht für seinen einzigen, jetzt fünf Jahre alten Sohn, dessen Mutter (eine gebürtige Griechin) bei der Geburt starb. Holly akzeptiert, und noch in derselben Nacht stirbt Vincey. Holly holt den nun verwaisten Sohn zu sich. Zwanzig Jahre später erleben wir den nun volljährigen Sohn und seinen Adoptivvater bei der Eröffnung der Kiste. Es breitet sich eine völlig unmögliche Geschichte vor dem Leser aus: Die Vinceys könnten offenbar ihren Stammbaum bis auf einen ägyptischen Isis-Priester namens Kallikrates (also offenbar griechischen Ursprungs) von vor 2’000 Jahren zurückführen. Ursprünglich einer Art Zauberin verfallen, verliebt er sich dann doch in eine Sterbliche. Er stirbt bei der Auseinandersetzung der beiden Frauen um ihn. Die nicht-zauberische Ägypterin flieht mit ihrem neugeborenen Sohn und hinterlässt ihm den Auftrag, ihre Liebe und seinen Vater an der Zauberin zu rächen oder allenfalls den Auftrag an seinen Sohn weiterzugeben. Da bisher keiner der Söhne den Auftrag erfüllen konnte (die meisten haben es offenbar gar nicht erst versucht, ein paar sind beim Versuch gestorben), ist der Auftrag nun zu Leo Vincey und Horace Holly gekommen. Für Leo ist es klar, dass er seinen Ahnherrn rächen muss, und Holly begleitet ihn – eher widerwillig zu Beginn. Die Queste kann beginnen.
Ich will hier nicht den ganzen Roman nacherzählen. Nach Überwindung diverser Hindernisse und Naturelemente, treffen unsere Helden im unterirdischen Höhlensystem, das sie auf bewohnt, auf – eben – Sie. „Sie“ oder „Sie-der-man-gehorchen-muss“ nennen die Eingeborenen ihre weisse Königin, die sie seit Menschengedenken regiert. Unsere Helden finden heraus, dass ihr „bürgerlicher“ Name „Ayesha“ ist, und dass es sich bei ihr tatsächlich um jene Zauberin handelt, der Leos Ahnherr seinerzeit zum Opfer fiel. Die Story ist vorhersehbar.
Was den Roman für uns heutige Leser interessant machen kann, sind eher die kultur-, sozial- und sexualhistorischen Konnotationen. „Sie“ ist grausam – und schön. Beide Männer, sowohl Leo, der in Cambridge so etwas wie ein kleiner Schwerenöter war, wie Holly, der ein erklärter Frauenfeind ist, verfallen der Schönheit von Ayesha. Leo, der gerade ein (im Roman nur angedeutetes!) intimes Verhältnis und nach dortigen Sitten eine Ehe mit einer einheimischen Schönheit eingegangen ist, vergisst seine Liebe ebenso wie Holly seine Feindschaft gegenüber dem weiblichen Geschlecht. Ayesha ist ihnen gut, weil sie in Leo das Abbild (oder gar die Wiedergeburt?) des Kallikrates erblickt, den sie einst und als einzigen in den über 2’000 Jahren geliebt hat. Das hindert sie nicht daran, mit ihnen und vor allem mit Holly auf grausam-kindliche Art und Weise zu spielen, zu flirten. Auch ist sie seit 2’000 Jahren gewöhnt, ihren Willen auf wirklich grausame Weise durchzusetzen. Sie regiert ihre Untertanen mit einem absolutistischen Terror, der modernen Terror-Regimes nur insofern nachsteht, als dass ihr die Massenvernichtungsmöglichkeiten unserer Zeit fehlen. Und so wird „Sie“ zum Sinnbild dessen, was der Mann fürchtet und zugleich liebt. Es ist die Schwester im Geist jener Venus im Pelz, deren Beschreibung ihrem Autor Sacher-Masoch die von ihm keineswegs gesuchte oder geliebte Ehre eintrug, Namenspatron einer sexuellen Ausrichtung zu werden. C. G. Jung erblickte in Ayesha die Verkörperung seines Prinzips der Anima. Es ist diese „Anima“ natürlich auch in vielem eine typische Erscheinung der Verklemmtheit, die das viktorianische Zeitalter beherrschte.
Im übrigen sei vor dem Inhalt gewarnt: Rider Haggard war – wie Rudyard Kipling – von der Rechtmässigkeit kolonialen Lebens überzeugt, überzeugt davon, dass die weisse Rasse (und allen voran natürlich der Engländer) die übrigen Rassen zu deren eigenem Heil dominieren müsse. Er war überzeugt davon, dass es eine natürliche Hierarchie der Rassen gab, in der die Schwarzen zuunterst, die weissen Engländer zuoberst standen. Damit wird Ayeshas Terrorregime gerechtfertig, denn Ayesha ist selbstverständlich von schneeweisser Haut. (Sich dessen zu überzeugen, hat unser Erzähler reichlich Gelegenheit, da sie sich nicht nur ihm gegenüber recht freizügig enthüllt – er kann sie auch eines Nachts bei einem sehr merkwürdigen Ritual nackt beobachten.) Auch Anti-Semit muss Haggard gewesen sein, anders lässt sich das merkwürdige „theologische“ Gespräch nicht interpretieren, das „Sie“ mit Leo schon kurz nach ihrem ersten Zusammentreffen führt.
Henry Rider Haggard hat – wie bei Quatermain – weitere Romane um Ayesha verfasst, in der wir mehr über ihr Schicksal vor und nach den Ereignissen, die in Sie geschildert werden, erfahren. In einem Roman trifft sie sogar auf Quatermain. Diese „Serialisierung“ eines Protagonisten / einer Protagonistin, inkl. „Cross-Over“ sind typische Merkmale der Trivialliteratur, der Haggard definitiv angehört. Keiner der Nachfolgeromane erreichte übrigens die Qualität oder die Bekanntheit des Erstlings.
Aber „Sie“ sollte jeder Mann kennen. 🙂
4 Replies to “Henry Rider Haggard: Sie”