Christian Morgenstern, † 31. März 1914

Heute vor 100 Jahren also verstarb Christian Morgenstern. Seine Galgenlieder gehören zu meinen frühesten Leseerlebnissen. Schon früh, neben und nach Karl May fielen mir diese Gedichte zusammen mit Johann Peter Hebels Schatzkästlein des Rheinischen Hausfreundes in die Hände. Hebel und Morgenstern las ich immer wieder. Ich muss bei der ersten Begegnung mit den Galgenliedern und dem Schatzkästlein 12 oder 14 Jahre alt gewesen sein; die beiden Bücher standen in Buchschrank meines Vaters. Diese väterliche Bibliothek war winzig und seltsam bestückt. (Kann man bei einem Bestand von 40 oder 50 Büchern überhaupt von einer Bibliothek reden?) Aber Hebel und Morgenstern waren in älteren und offenbar fleissig gelesenen Ausgaben vorhanden – fleissig gelesen schon, bevor sie mir in die Hände fielen. (Heute stehen von beiden Autoren umfassendere Auswahl-Ausgaben aus ihrem Werk bei mir – ich habe die alten Ausgaben fast buchstäblich zerfleddert.)

Ich verstand damals natürlich nicht alles in den Galgenliedern (und wage nicht zu behaupten, dass ich das heute tue). Aber ich bin noch immer darauf stolz, dass ich – nicht bei der ersten Lektüre, aber doch schon relativ bald – ohne jemandes Hilfe realisiert habe, dass der Versuch einer Einleitung zur dritten beziehungsweise ersten Auflage einer gewissen Fr. Dr. Gundula Mueller – ein Witz des Autors war. Ich würde auch gern behaupten, dass Morgensterns Galgenlieder meinen Sinn für Humor geformt haben, meine heutige Liebe für skurrile Autoren wie Lewis Carroll oder Paul Scheerbart. Aber es war wohl eher so, dass Morgensterns Gedichte meiner bestehenden, aber latenten Neigung zum Seltsamen mit ihrem kombinierten Wort- und Sachwitz einfach entgegen kamen. Viele Galgenlieder sind zugleich schaurig und komisch:

Der Zwölf-Elf

Der Zwölf-Elf hebt die linke Hand:
Da schlägt es Mitternacht im Land.

Es lauscht der Teich mit offnem Mund.
Ganz leise heult der Schluchtenhund.

Die Dommel reckt sich auf im Rohr
Der Moosfrosch lugt aus seinem Moor.

Der Schneck horcht auf in seinem Haus.
Desgleichen die Kartoffelmaus.

Das Irrlicht selbst macht Halt und Rast
auf einem windgebrochnen Ast.

Sophie, die Maid, hat ein Gesicht:
Das Mondschaf geht zum Hochgericht.

Die Galgenbrüder wehn im Wind.
Im fernen Dorfe schreit ein Kind.

Zwei Maulwürf küssen sich zur Stund
als Neuvermählte auf den Mund.

Hingegen tief im finstern Wald
ein Nachtmahr seine Fäuste ballt:

Dieweil ein später Wanderstrumpf
sich nicht verlief in Teich und Sumpf.

Der Rabe Ralf ruft schaurig: ›Kra!
Das End ist da! Das End ist da!‹

Der Zwölf-Elf senkt die linke Hand:
Und wieder schläft das ganze Land.

Ganz einfaches Versmass, keine komplexe Reimerei – das macht das Geheimnis von Morgensterns Gedichten aus, macht, dass man sie so schnell auswendig hersagen kann.

Jahre nach meiner Kindheitslektüre habe ich herausgefunden, dass es von Morgenstern auch noch anderes gibt: Palmström oder Palma Kunkel, die weniger schaurig, aber noch versponnener sind als die Galgenlieder, und die ich mittlerweile genau so liebe. Von Morgenstern existieren auch ‘seriöse’ Gedichte. Bei denen aber zeigen sich die Grenzen Morgenstern’scher Kunst deutlich: Einfaches Versmass und Verzicht auf komplexe Reimerei ermüden, wenn das Thema nicht genügt, des Lesers Interesse aufzureizen.

Als Übersetzer aus dem Norwegischen (Henrik Ibsen, Knut Hamsun, Bjørnstjerne Bjørnson) habe ich Morgenstern erst vor ein paar Jahren wahrgenommen, als ich realisierte, dass einige der Stücke in meiner Ibsen-Ausgabe von ihm übersetzt waren. Über die Qualität der Übersetzungen kann ich nichts sagen, da ich kein Norwegisch beherrsche. Der Sprache als solcher hätte ich den Morgenstern der Galgenlieder nicht angemerkt, aber das ist per se weder negativ noch positiv.

Morgensterns Nähe zu Rudolf Steiner hingegen war mir schon länger bewusst. Eine Zeitlang war ich überzeugt, dass Steiners Anthroposophie den Humoristen in Morgenstern abgetötet habe; aber ich heute weiss ich, dass diese beiden – für mich inkompatiblen! – Seiten in Morgenstern nebeneinander bestanden haben. Ich verstehe Morgensterns Enthusiasmus nicht, und das hat mein Verhältnis zu ihm etwas abekühlt.

Die Galgenlieder allerdings sind köstlich, und bis heute ist meine Morgenstern-Ausgabe eines der wenigen Bücher, in denen ich mit Post-Its die schönsten Stellen markiert habe, um sie jederzeit wieder zu finden.

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