Short Stories, kurze Kriminalgeschichten, haben den Vorteil, dass sie kurz genug sind, um den Leser über die Unwahrscheinlichkeit der jeweiligen Konstruktion hinwegsehen zu lassen. Allerdings sind sie dann auch oft so kurz, dass selbst einer wie ich die Lösung des jeweiligen Falls im voraus erkennen kann.
Genau das ist mir nämlich passiert bei den Short Stories rund um Miss Marple, die Agatha Christie zwischen 1932 und 1979 veröffentlicht hat (in The Thirteen Problems – auf Deutsch, glaube ich, Der Dienstagsclub – in Miss Marple’s Final Cases and Two Other Stories, sowie mindestens eine noch in The Adventures of the Christmas Pudding and a Selection of Entrées). Vor allem in den ersten beiden Büchern ist das Gerüst immer dasselbe: Miss Marple und einige ihrer Freunde treffen sich in gemütlicher Runde. Es gehören u.a. das Ehepaar Bantry dazu, das wir aus The Body in the Library kennen – in The Thirteen Problems haben die beiden allerdings selber noch keine Bekanntschaft mit einem Ermordeten im eigenen Haus gehabt. Auch andere wiederkehrende Figuren der Standard-Crew rund um Miss Marple trifft der Leser an. Diese fröhliche Runde vertreibt sich die Zeit damit, einander Kriminalgeschichten zu erzählen – Kriminalgeschichten, bei denen der Erzähler den Täter kennen sollte; die aber so erzählt werden sollten, dass die andern Mitglieder der Runde über Täter und Motiv rätseln können. Alle erzählen sie eine Geschichte, alle rätseln sie fröhlich drauf los, und jedesmal geht Miss Marple fast vergessen, wenn es darum geht, die Meinungen der Teilnehmer einzuholen. Dabei ist Miss Marple jedesmal die einzige, die den wirklichen Täter und sein Motiv zu erraten vermag.
Vielmehr ist es in ihrem Fall eben kein Erraten – sie weiss die Lösung, weil sie im kleinen Kaff St. Mary Mead, wo sie lebt, immer wieder analoge Fälle erlebt hat. Damit haben wir auch in den Kurzgeschichten um Miss Marple jenes viel zu wenig gewürdigte Phänomen, dass, was so traulich und nett und ein bisschen viktorianisch-altmodisch-verklemmt daher kommt, nur für den Aussenstehenden traulich und nett ist. Verklemmt zwar ist Miss Marple wirklich – aber das hindert sie nicht daran, die Wichtigkeit der Sexualität, gerade weil sie verdrängt wird, zu erkennen. Tatsächlich ist diese scheinbar idyllische Welt Miss Marples voller Intrigen und grausamer Vorfälle; im Grunde genommen kann keiner keinem übern Weg trauen – nicht der Bruder der Schwester, nicht der Dienstherr dem Dienstboten. Wir Nicht-Viktorianer und Menschen des 21. Jahrhunderts stellen fest: In Miss Marples Welt tun die Leute, auch und vor allem die Frauen!, für guten Sex so ziemlich alles. Und so stehen wir vor der Tatsache, dass Miss Marple, obwohl sie sich zu verschiedenen Malen selbst zum Fossil der viktorianischen Zeit erklärt, als einzige up to date ist und die Grausamkeit der modernen Zeit erkennt und akzeptiert.
Übrigens muss ich zur Ehrenrettung von Agatha Christie festhalten, dass nicht ganz alle Stories dem oben beschriebenen simplen Schema folgen. Zumindest in einer erleben wir, dass die scheinbar nicht ganz so helle Erzählerin die Runde komplett in die Irre führt, indem sie nicht ein schon geschehenes Ereignis erzählt, sondern einen Plan, den sie selber ausführen möchte. Einzig Miss Marple durchschaut sie (und warnt sie vor der Durchführung, weil sie sich damit völlig in die Hand ihrer Komplizin, die zugleich ihr Mädchen ist, gäbe). Auch ist Miss Marple keineswegs eine durchwegs positiv geschilderte Meisterdetektivin – ihr grosses Laster ist der Dorfklatsch, und sie ist daher in St. Mary Mead keineswegs beliebt, ihre in Essig getränkte Zunge dort berüchtigt.
Alles in allem aber sind die kurzen Geschichten um Miss Marple eine nette Lektüre. Mir haben sie jedenfalls perfekt über ein Wochenende mit Migräne hinweggeholfen 😉 .
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