Richard Dawkins: Das egoistische Gen

Es handelt sich bei dem vorliegenden Buch um die Jubiläumsausgabe zum 30. Jahrestag seiner Erscheinung 2006 (die zweite Auflage von 1994). Dies ist deshalb von Bedeutung, weil diese Ausgabe (wenn man den Kleindruck der hinzugefügten Fußnoten berücksichtigt und auch die beiden neuen, rund 100 Seiten umfassenden Kapitel) fast den doppelten Umfang der Erstausgabe ausmacht. Dawkins bemüht sich um eine umfassende Aufarbeitung der Kritik, die sein Buch in der ersten Auflage erfahren hat, die beiden neuen Kapitel beschäftigen sich mit der Spieletheorie bzw. bringen eine Kurzfassung seines nie auf deutsch erschienenen Buches „The extended Phenotype“ (ein Buch, das W. Wickler im Vorwort zum wichtigsten Werk Dawkins‘ erklärt, womit er nicht ganz unrecht haben könnte).

Das Buch ist sprachlich und inhaltlich brilliant, es ist ein Sachbuch mit hohen Anprüchen, keineswegs aber mit schwer verständlicher Fachterminologie überfrachtet und erinnert an die großartigen Bücher Hoimar v. Dithfurths, wobei ich aber glaube, dass Dawkins bezüglich Klarheit und wissenschaftlicher Prägnanz Dithfurth noch übertrifft. Das Buch bezieht Stellung zu einer in den 70igern begonnenen (nie ganz abgeschlossenen) Auseinandersetzung zwischen Anhängern einer Gruppenselektion und jenen, für die das Individuum die entscheidende Einheit für die Selektion darstellt. Wie schon aus dem Titel ersichtlich setzt Dawkins noch „früher“ an: Für ihn, der streng zwischen Replikatoren (Genen) und Vehikeln (Körpern aller Art) unterscheidet, ist das Gen der Replikatior, jene Stelle, an der die Selektion ansetzt. Er untermauert diese seine Theorie mit unzähligen Beispielen, bleibt aber dennoch vorsichtig und ist nirgendwo dogmatisch: Allerdings sind seine Thesen plausibel und nachvollziehbar – und machen zumindest der Gruppenselektion von Lorenz oder Eibl-Eibesfeldt den Garaus. Dawkins eignet dabei das Talent, sehr komplizierte, mathematisch-formale Zusammenhänge verständlich dazustellen, er ist ein Meister der Analogie und kann sich in den biologisch wenig vorgebildeten Leser hineinversetzen.

Im letzten Kapitel der ersten Auflage entwickelt er auch erstmals seine Mem-Theorie, das kulturelle Gegenstück zur biologisch-chemischen Einheit des Gens. Diese Theorie hat nicht ganz jenen Erfolg gefunden, den Dawkins sich wahrscheinlich erhofft hatte (obschon er von der Soziobiologie nach einigem Widerstand akzeptiert wurde). Besonders interessant und spannend sind aber die beiden neu hinzugefügten Kapitel: So wird hier die Spieletheorie für die evolutionäre Entwicklung fruchtbar gemacht (wiederum ohne das Formelhafte dieser Theorie über Gebühr heranzuziehen: Spieltheoretisches ist häufig unlesbar) und – m. E. noch wichtiger – die These des „erweiterten Phänotyps“ entwickelt. Ausgehend von der entscheidenden selektiven Einheit (dem Gen) zeigt Dawkins über die verschiedenen Varianten der Fortpflanzung, dass ein solches Gen nicht nur Auswirkungen auf sein „Vehikel“ besitzt, sondern auch die Umwelt beeinflusst. Und dies nicht bloß in einem übertragenen Sinn: Wenn man das Gen als den entscheidenen Replikator betrachtet, verschwimmt der Unterschied zwischen dem Vehikel, einem fremden Vehikel und der Umgebung. Wichtig und bedeutsam ist die Art und Weise der Vermehrung: Findet eine solche über den Engpaß einer Art von Samen- (Ei-)zelle statt (bzw. über Sporen, die durchaus auch ungeschlechtlich sein können), so wird das Gen jene Einheit unterstützen (bzw. die Umgebung entsprechend zu gestalten versuchen), die diese Samen hervorbringt. Dadurch wird auch das Verhältnis von Wirt und Parasit sehr viel klarer: Sobald der Gencode eines Bakteriums (Parasiten) ein Teil der größeren Einheit wird (wie es wahrscheinlich bei sehr vielen unserer Organe geschehen ist) und die Vermehrung des Genstückes von dieser Einheit abhängig ist, ändert sich auch das „Interesse“ des Gencodes. Bleibt ein solches Bakterium (ev. auch Virus) bezüglich seiner Fortpflanzung vom Individuum unabhängig (kann es etwa ein Individuum verlassen und in einem anderen genetisch ident weiterexistieren), so besteht für dieses Genstück nur ein eingeschränktes Interesse am Leben des Wirtes.

Durch das Primat des Gens als replizierende Einheit (das – wie im Titel anklingt, egoistisch gedacht wird, was – wie Dawkins zu betonen nicht müde wird – eine reine Analogie darstellt, da Gene an sich selbstverständlich keine egoistischen oder altruistischen Eigenschaften haben können) ergeben sich auch philosophische Implikationen: Das schon von Mach als unrettbar bezeichnete Ich wird noch stärker segmentiert – oder aber auch auf die Umwelt ausgedehnt. In jedem Fall wird es schwieriger, diese Einheit des Ichs zu bestimmen, diese zerfällt bei genauerer Betrachtung und erweist sich als praktikable, nichts desto weniger aber illusionäre Vorstellung. Eine philosophische Auseinandersetzung über das Ich auf genetischer Basis (sofern dann von einem Ich überhaupt noch gesprochen werden kann) fehlt jedenfalls bisher.

Keinesfalls ist das Buch – wie manchmal zu lesen ist – eine Art sozialdarwinistische Apologie des Egoismus – im Gegenteil: Dadurch, dass dem Gen der „Ur-Egoismus“ zugesprochen wird, erfährt das Individuum als solches eine wesentlich größere Freiheit: Wir können unser Handeln auf eine Zukunft hin entwerfen, sind keinesfalls dem determinierenden Einfluss des Gens unterworfen. Wobei für die Selektion auf Individuenebene die schon erwähnten spieletheoretischen Ausführungen (Gefangenendilemma in all seinen Schattierungen) den Schluss nahelegen, dass Zusammenarbeit in fast allen Fällen die vielversprechendere Variante ist (Axelrods Experimente von gegeneinander antretetenden Computerprogrammen egoistischen oder altruistischen Zuschnitts werden dokumentiert: Trotz hochkomplexer Strategien setzte sich in beiden Experimenten das einfache „Wie du mir, so ich dir“ durch: Ein Programm, dass prinzipiell auf Zusammenarbeit baut, einen Betrug hingegen sofort ahndet, andererseits nicht nachtragend ist). Gerade aus diesen spieltheoretischen Experimenten folgt aber das oben erwähnte Prinzip des „erweiterten Phänotyps“: Denn für den Erfolg eines Programmes (Gens) sind nicht nur die anderen Programme von Bedeutung, sondern auch deren Häufigkeit bzw. ihre Überlebensfähigkeit. Ausgehend von verschiedenen Ausgangsbedingungen (etwa dem Verhältnis der altruistischen bzw. egoistischen Programme) ließ sich – übertragen auf biologische Verhältnisse – nur eine wahrscheinlich evolutionär stabile Strategie (ESS) ausmachen: Jenes oben erwähnte „Tit for Tat“ (Wie du mir – so ich dir).

Das Buch ist – selbst wenn man in manchen Punkten dem Autor nicht folgen will – ein geistreiches, anregendes und glänzend geschriebenes Werk, das in keiner Bibliothek fehlen sollte. Leider sind Dawkins evoluionär-biologische Verdienste seit seinem „Gotteswahn“ in der Reduktion seiner Person auf einen Kämpfer gegen Religionen in Vergessenheit geraten. Gänzlich zu Unrecht: Er zählt zweifelsohne zu den brilliantesten Autoren seiner Zunft.

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