Michael Pauen, Gerhard Roth: Freiheit, Schuld, Verantwortung. Grundzüge einer naturalistischen Theorie der Willensfreiheit

Die Autoren versuchen sich gewissermaßen an der Quadratur des Kreises: Womit das Scheitern schon vorprogrammiert ist. Der Trick ihrer Beweisführung besteht darin, dass sie den Kreis als Vieleck definieren und damit der Antinomie zu entkommen suchen. Meines Erachtens konnten sie über diesen Ansatz noch nicht einmal die innere Konsistenz ihrer “Theorie” herstellen, da sie vor den entscheidenden Folgerungen des Determinismus immer wieder zurückschrecken, die Überlegungen nicht konsequent zu Ende führen. Dass trotz aller dieser Widrigkeiten das Buch äußerst lesbar und anregend erscheint spricht für die Autoren.

Die Antinomie zwischen Determinismus und Willensfreiheit hat schon weiland Kant zu metaphysischen Bocksprüngen verleitet. Der Grund liegt schlicht darin, dass man sie nicht als solche anerkennen will – und Pauen/Roth ergeht es ähnlich (obschon sie nicht Zuflucht zur Metaphysik nehmen). Ihr Vorhaben, Philosophie und Wissenschaft – im vorliegenden Fall Willensfreiheit und Neurobiologie – zur Grundlage ihrer Überlegungen zu machen, verdient Anerkennung. Wobei das Philosophieren im rationalistischen Elfenbeinturm – ohne Kenntnisnahme dessen, was die Wissenschaft mittlerweile an Neuem zu philosophischen Überlegungen beitragen kann – glücklicherweise auf dem Rückzug ist. Gott bleibt meist den Theologen vorbehalten – und über das Wesen der Materie zu streiten überlassen wir besser den Physikern.

Zuvörderst: Man entkommt dem Determinismus nicht. Über jeden Vorgang, über jedes Ereignis lässt sich, nachdem es stattgefunden hat, mit Recht feststellen, dass es genau so hat stattfinden müssen (sonst hätte es so nicht stattgefunden). Quantenphysikalische Imponderabilien sind diesbezüglich völlig belanglos: Denn es geht nicht darum, im Sinne des Laplace’schen Dämons den Lauf der Welt vorherzusagen. Für den Zufall ist selbstverständlich Platz in einer deterministischen Konzeption: Denn nachdem sich dieser für a entschieden hat, folgt darauf b; wäre es aber b gewesen, für das die Würfel gefallen sind, wäre darauf c gefolgt. Je mehr Zufälle, desto weniger Gesetzmäßigkeit: Würden diese Zufälle auch die makroskopische Welt bestimmen, gäbe es uns nicht (aber für den Determinismus hätte das keinerlei Auswirkungen).

Die Autoren versuchen dem dadurch zu entgehen, dass sie zwar die Kausalität für kleine, überschaubare Bereiche (etwa den Erregungstransfer von Axon auf Dendrit) nicht in Frage stellen, hingegen für menschliche Entscheidungen, die auf Gründen (nicht auf solchen Einzelursachen) basieren, Freiheit annehmen, wobei eine der Voraussetzungen für diese Freiheit die Freiheit von Zwang (wie schon Hume betont) bedeutet, zum anderen aber auch die Freiheit von Zufälligkeiten (weshalb man nochmals erwähnen darf – und auch die Autoren betonen dies – dass ein mehr an (quantenphysikalischem) Zufall keinesfalls zu einem mehr an Freiheit führt – im Gegenteil: Eine nur durch den Zufall bestimmte Handlung ist eben nicht durch unseren Willen bedingt). Wenn nun diese beiden Bedingungen erfüllt wären, könne man bei einem Menschen von freien Entscheidungen sprechen, der dann auch nicht im Widerspruch zum Determinismus stünde (da die Autoren diesen Determinismus als das Gegenteil von absolutem Zufall begreifen und ihn daher als für eine freie Entscheidung sogar konstituierend ansehen).

Da das Individuum nun über diese Gründe verfügt und eine freie Entscheidung “einen Bezug zur Person des Handelnden haben muss“, hängt es von mir ab, “ob ich A oder B tue – und ich kann dann A oder B tun. Selbst wenn ich faktisch A tue, kann man dann im nachhinein mit Recht sagen, dass ich B hätten tun könnnen.” (Hervorhebungen durch die Autoren) Das nun will ich bezweifeln: Denn die Tatsache, dass A getan wurde, schließt aus, dass auch B hätte getan werden können. Der Trick bei dieser Argumentation der Autoren besteht einerseits darin, dass plötzlich ein “ich” eingeführt wird, dass aus einer Art Metaposition diese Entscheidungen trifft (aber auch dieses ich ist neuronal realisiert und keineswegs eine Metainstanz: Schon Russel hat mit Recht darauf hingewiesen, dass wir die Begriffe “Selbst”, “Ich”, “Seele” etc. immer in einer Form verwenden, als ob in unserem Gehirn ein kleines Männchen sitzen würde, dass dort Regie führt); andererseits wird der Kausalnexus für eine simple neuronale Aktivität zwar akezptiert, wenn aber dieser Zusammenhang unübersichtlich und für uns undurchschaubar wird, erweckt man den Anschein, dass dadurch etwas genuin Neues entstehen würde. Aber die Zahl der (neuronalen) Aktivitäten ist für den kausalen Zusammenhang völlig irrelevant: Selbst wenn wir aufgrund inhärenter mathematischer Beschränkungen niemals auch nur theoretisch in der Lage sein sollten, diese Zusammenhänge genau zu analysieren, ist das irrelevant.*

Einer der Gründe für dieses unbedingte Festhalten an der Willensfreiheit ist für viele (und offenbar auch für die Autoren) der Bezug zum Strafrecht. Wenn denn die Menschen determiniert handelten – wären sie dann für ihre Taten überhaupt weiter verantwortlich bzw. müsste man dann nicht alle Strafen abschaffen, da der Einzelne gar nicht anders hätte handeln können? Voraussetzung ist auch hier wiederum die Freiheit von Zwang (wenn ich mit vorgehaltener Pistole zu einer Handlung gezwungen werde ist meine äußere Freiheit eingeschränkt, zur “inneren Freiheit”, Zwangshandlungen, weiter unten), aber auch die Freiheit von Zufälligkeiten: Denn über den Zufall kann ich nicht verfügen und bin daher auch nicht verantwortlich. Es würde sich aber durch eine angenommene Determination am derzeitigen Strafrecht überhaupt nichts ändern: Ich kann zur Kenntnis nehmen, dass Person A sich in einer bestimmten Situation gezwungen gesehen hat, einen Einbruch zu begehen. Dann habe ich als Gesellschaft, die sich vor solchen Taten schützen will, das Recht, auf diese Person in – welcher Form auch immer – einzuwirken, sodass A das nächste Mal einen solchen Einbruch unterlässt (gezwungen ist, ihn nicht zu begehen). Für die Art der Strafe, die Resozialisierung etc. spielen aufgrund der angenommenen Determination keine anderen Überlegungen eine Rolle als bisher: Man wird alle Maßnahmen versuchen auf die Person abzustimmen, wird abzuschätzen versuchen, warum A so und nicht anders gehandelt hat, wie groß die Chancen sind, dass er wieder so handelt und was ihn davon am besten abbringen könnte. Es geht dabei nur um die Tatsache des Einbruchs und die Einschätzung seines Charakters: Aber es ist völlig irrelevant, ob man behauptet, er hätte anders handeln können oder aber man ihm diese Freiheit abspricht, weil er so und nicht anders gehandelt hat.

Deutlich wird das auch bei sogenannten inneren Zwängen (etwa bei Kleptomanie oder auch bei Sexualdelikten). Wie auch die Autoren gerade im Hinblick auf letztere (bzw. besonders schwere Verbrechen) feststellen, besteht häufig ein sogenanntes “Schuldparadoxon”: Je verabscheuungswürdiger eine Tat ist, desto eher wird man eine hirnorganische oder psychische Störung feststellen, die die Schuldfähigkeit des Täters beeinträchtigt oder gar ausschließt. Aber diese Beeinträchtigung bedeutet keineswegs, dass man deshalb auf Strafe verzichtet (bzw. keine Maßnahmen setzt, die die potentiellen Täter daran hindern, weitere Taten zu begehen), man wird die Betreffenden oft lebenslang wegsperren müssen. Die vorgebliche Einschränkung der Willensfreiheit des Täters ist dabei nicht wichtiger wie die des genannten Einbrechers: Nur wird man bei letzterem zum einen aufgrund der die Gesellschaft weniger schädigenden Tat als auch aufgrund einer angenommen Persönlichkeit, die auf rationale Gründe, auf Kritik etc. eher reagiert als die des Triebtäters, mit anderen Regelungen versuchen, weiteren Schaden von der Gemeinschaft abzuwenden. Wenn dann dieser Täter in einer vergleichbaren Situation keinen Diebstahl begeht, hat irgendeine der Maßnahmen (Drohungen, Appell an den Gerechtigkeitssinn etc.) dahingehend gewirkt, dass er die Tat nicht beging. Und auch hier ist es wieder unbedeutend, dass er sie im Sinne eines konsequenten Determinismus gar nicht mehr begehen konnte. Genau darauf zielt unser Strafrecht ab: Dass potentielle Täter die Taten nicht begehen können. Hier ist nur die Terminologie ungewohnt, man wird aber erkennen, dass sich für unsere grundsätzlichen Überlegungen zur Resozialisierung, Bestrafung etc. nichts ändert, wenn man von den Begriffen Freiheit und Schuld völlig absieht. Denn es ist – wie erwähnt – ohnehin paradox: Je ungeheuerlicher die Verbrechen, desto geringer die Schuld, die wir zumessen. Der Schuldigste wäre nach den üblichen Freiheitsbegriffen gerade der, der kleine Verbrechen (und die nur einmal) begangen hat: Denn gerade dieser Person würden wir einen sehr viel größeren Freiheitsgrad in seinen Entscheidungen zuerkennen.

Deshalb glaube ich, dass man diese Antinomie gar nicht aufzulösen versuchen sollte: Jedenfalls dürfte das mit der herkömmlichen Begrifflichkeit ein Ding der Unmöglichkeit sein. Sondern man sollte sich auf eine pragmatische Analyse beschränken und die Notwendigkeit mancher Begriffe hinterfragen: Sie sind menschengemacht und schon deshalb oft entbehrlich. Das Buch ist – trotz dieser nach meinem Dafürhalten ergebnislosen Versuche einer “Theorie der Willensfreiheit” – sehr zu empfehlen. Denn es regt zum Nachdenken und zum Widerspruch an – und das ist das Schlechteste nicht, was man von einem Buch sagen kann.


*) In diesem Zusammenhang erwähnen die Autoren auch den dualistischen Körper-Seele-Ansatz und meinen, dass ein solcher Dualismus am Problem nichts ändern würde. Auch hier bin ich anderer Meinung: Der Dualismus ist sogar die einzige Chance, die Willensfreiheit in ihrer ursprünglichen Bedeutung aufrecht zu erhalten. Nur durch die Annahme einer unkörperlichen Seele kann ich jene Metaposition einnehmen, die jeglichem Kausalzusammenhang entzogen ist. Man muss sich allerdings im Klaren darüber sein, welche Konsequenzen man sich damit einhandelt: Wenn Immaterielles “wirken” kann, müssen wir alles, was wir in der Physik als gesichert ansehen (und vor allem den Energieerhaltungssatz), ablehnen. Wir müssen glauben, dass nichts etwas auslöst, wir eröffnen damit jedem Geisterglauben Tür und Tor und können, da wir von einer solchen “Wirkung” nicht die geringste Vorstellung haben, an derlei nur glauben wie an den Osterhasen. Ich zweifle, dass dies akzeptabel ist.


Michael Pauen, Gerhard Roth: Freiheit, Schuld, Verantwortung. Grundzüge einer naturalistischen Theorie der Willensfreiheit. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2008.

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